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Neue Zürcher Zeitung, 225. Jg., Nr. 299, 22. Dezember 2004, Internationale Ausgabe Seite 35 (Feuilleton)


Überall ist Mathematik

Ein Buch über Zahlen im Flutlicht der Zeit

Höhepunkte nationaler Wahlkämpfe sind die «Elefantenrunden» im Fernsehen, in denen üblicherweise die Spitzenkandidaten ihre Ziele nicht nur mit Worten erzählen, sondern auch mit Zahlen beschreiben. Bei den österreichischen Nationalratswahlen 1995 diskutierten der damalige Bundeskanzler Vranitzky, der heutige Amtsinhaber Schüssel und drei Vertreter kleinerer Parteien neunzig Minuten lang und stellten dabei etwa zwei Zahlen pro Minute in den Raum. Die Zahlenzitate - insgesamt 196 - reichten vom mickrigen Bruchteil 1/4 bis zum Gruselmonster 1 600 000 000 000. Sie schmücken nun Seite 107 des neuen, spannenden Buchs über «Der Zahlen gigantische Schatten» von Rudolf Taschner. Was der Autor zu ihrem Ge- und Missbrauch zu sagen hat, dürfte nicht nur seine Leser und Leserinnen faszinieren, sondern für künftige Kombattanten und ihre spin doctors von direktem Nutzen sein.

Zahl und Politik, Zahl und Musik, Zahl und Geist - schon das Format der Kapitelüberschriften steht für ein Programm. Taschner nimmt seine Leser auf eine mathematische Entdeckungsreise mit, die trockene Rechnungen und komplexe Formeln beiseite wischt und sich stattdessen an der Vielfalt der von uns erlebten realen Welt orientiert. Startpunkt ist das pythagoreische Motto «Alles ist Zahl». Dass damit keine banale Reduktion auf bloss Quantitatives gemeint sein kann, erscheint zwar offensichtlich. Aber nur wenigen Berufsmathematikern ist es vergönnt, das Offensichtliche der breiten Öffentlichkeit so gekonnt und pointiert zu vermitteln, wie Taschner es in seinem Buch gelingt.

Spannend wie ein Krimi liest sich seine Erzählung über den Basler Mathematiklehrer Johann Jakob Balmer. Geleitet von der unbedingten Zuversicht, dass die Gesetze der Natur im Grunde einfach sind, führte Balmer 1885 die Wellenzahlen des Wasserstoffspektrums Schritt für Schritt in einen simplen zahlenmässigen Zusammenhang über. Die Eleganz des Ergebnisses zeitigte revolutionäre Früchte, als 1913 Niels Bohr damit die Quantentheorie der Physik begründete.

Jedes Kapitel beruft sich auf eine Autorität vergangener Zeiten, Pythagoras ist der älteste Pate, Bohr der jüngste. Die anderen sechs überspannen die Zeit von der Aufklärung bis heute: Descartes, Pascal, Leibniz, Bach, Laplace, Hofmannsthal. Mit deren unterschiedlichen Wirkungsfeldern illustriert Taschner seinen Lesern die Allgegenwart der Mathematik.

Das Buch ist nicht nur ein Lesevergnügen, es ist auch eine Augenweide. Rudolf Taschner ist die treibende Kraft hinter «math.space», dem mathematischen Raum im Museumsquartier Wien, und die Erfahrung als Ausstellungsmacher schlägt sich im Buch sichtbar nieder. Den 162 Seiten Text sind 163 Abbildungen beigegeben: Grafiken und Gemälde, Porträts und Partituren, Tabellen und Terzinen. Beim Thema Wahrscheinlichkeit wird zwar der unvermeidliche Roulette-Tisch gezeigt, aber die Abbildung wirbt eher für Edvard Munch als für ein Kasino. Was dem Buch fehlt, ist ein Index. Bei der Fülle der Personen und Themen, die behandelt werden, ist dieser Mangel ein handfestes Ärgernis. Offenbar sind selbst renommierte Verlage so von der Vergänglichkeit des Internets gebannt, dass sie darüber die Ausstattung ihrer Bücher vergessen.

Das Buch schliesst - wie sollte es anders sein beim vorgegebenen Thema - mit Betrachtungen über das Unendliche. Unmerklich wandelt der Autor das Trauma des Unendlichen in unendliche Träumerei und überlässt dann das letzte Wort dem jungen Törless. Dass Taschner als Wiener dem reichen Kulturerbe seiner Heimat einen prominenten Platz einräumt, gibt - wie alles Wienerische - seinem Werk einen gewinnenden Charme. Dem Autor sei Dank für ein schönes Geschenk zur Weihnachtszeit.

Friedrich Pukelsheim

Rudolf Taschner: Der Zahlen gigantische Schatten. Mathematik im Zeichen der Zeit. Vieweg-Verlag, Wiesbaden 2004. 198 S., Fr. 69.40.

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2004/12/22/fe/page-articleA05EC.html

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