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Stadtforschung und Statistik 1/2003, Seite 56-61


Friedrich Pukelsheim, Augsburg

Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen?

Der schwierige Umgang mit einem hehren Ideal

Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen ist der ideale Anspruch, der für die im Bundeswahlgesetz vorgesehene mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl verfassungsrechtlich gefordert wird. Diese qualitativ-verbale Forderung lässt sich quantitativ-operational umsetzen, um eine erfolgswertoptimale Mandatszuteilung zu erhalten. Die erfolgswertoptimale Methode erlaubt es zudem, eine mit den Direktmandatsgewinnen verbundene Verhältnisrechnung durchzuführen und so Überhangmandate gänzlich zu vermeiden. Diese Ansätze werden an Hand der Bundestagswahl erläutert und dem derzeitigen Verrechnungsverfahren gegenübergestellt.

Am 22. September 2002 wurde der 15. Deutsche Bundestag gewählt, am 9. Oktober gab der Bundeswahlleiter das endgültige Ergebnis bekannt. Die Wahl war gelaufen. War sie auch gut gelaufen? Jein, ist meine Antwort. Das derzeitige Wahlsystem lässt Raum für Verbesserungen, die die Stellung des Wählers wesentlich stärken würden. Die hier diskutierten Alternativen betreffen ausschließlich die Verrechnung der Stimmen in Mandate.

Teil I: Theorie

Die Gütekriterien, mit denen Mandatszuteilungsmethoden zu bewerten sind, orientieren sich an den allgemeinen Wahlgrundsätzen der Verfassung. Artikel 38 des Grundgesetzes legt fest, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Von dieser Hand voll Eigenschaften ist es die Gleichheit der Wahl, die für die Beurteilung von Mandatszuteilungsmethoden bestimmend ist. Die Verfassungsgerichte konkretisieren diesen Grundsatz zur Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen.

Was genau ist darunter zu verstehen? Bezugsgesamtheit sind offenbar nicht die Parteien und auch nicht die Wahlbewerber, sondern allein die Wähler. Das Bundesverfassungsgericht definierte 1952 in einer seiner ersten Wahlrechtsentscheidungen die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen mit dem Satz: ...; alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.

Erfolgswert einer Wählerstimme

Aus diesem Satz ergibt sich in gerader Argumentationslinie, dass der Erfolgswert einer Wählerstimme keine abstrakte Qualität ist, die dem Wähler nur eine irgendwie nicht näher bestimmte Erfolgschance in Aussicht stellt, sondern eine konkrete Quantität, die sich als Zahl ausdrückt.

Denn die vi Zweitstimmen (Voten), die auf Partei i entfallen, führen zu einem Erfolg von mi Mandaten. Da alle Stimmen gleichen Zählwert haben, verteilt sich der Erfolg von mi Mandaten in gleicher Weise auf die vi Stimmen. Eine einzelne Stimme hat also mit dem Bruchteil mi / vi am Erfolg teil.

Noch fehlt aber der Bezug auf die Gesamtheit aller Mandate und die Gesamtheit aller Stimmen. Ob die mi Mandate einen großen oder kleinen Erfolg bedeuten, wird erst im Licht der Gesamtzahl M aller Mandate sichtbar. Beispielsweise sind 30 Sitze eine absolute Mehrheit in einem Ausschuss von 50 Mitgliedern und eine kleine Minderheit in einem Plenum von 600 Mandaten. Ebenso ist das Gewicht von vi Wählerstimmen nur zu ermessen, wenn die Zahl V aller Stimmen mitbedacht wird.

Wir definieren daher den Erfolgswert einer für die Partei i abgegebenen Wählerstimme nicht als den Quotienten von Mandatszahl und Stimmenzahl, sondern als den Quotienten der Anteile von Mandaten und Stimmen: (mi / M) / (vi / V).

Ideale Gleichheit der Erfolgswerte

Der ganze, hundertprozentige Erfolg, der im Idealfall einer Wählerstimme zukommen sollte, wird durch den idealen Erfolgswert 1 gemessen. Hat nämlich der Erfolgswert einer für die Partei i abgegebenen Wählerstimme den Wert 1, so stimmen Mandatsanteil mi / M und Stimmenanteil vi / V dieser Partei exakt überein. Haben die Erfolgswerte aller f\\ur irgendeine der Parteien abgegebenen Stimmen den Wert 1, so trifft die Zuteilung genau das Ideal, das die Verhältniswahl anstrebt.

In der Realität werden die Erfolgswerte der Wählerstimmen vom idealen Erfolgswert 1 abweichen, die einen nach oben, die anderen nach unten, und manche mehr, manche weniger. Liegt ein realisierter Erfolgswert unter dem Idealwert 1, hat die Stimme weniger Einfluss als bei idealen Verh\\altnissen, liegt er darüber, hat sie mehr Einfluss.

Reale Ungleichheit der Erfolgswerte

Bei der Beurteilung dieser real unvermeidbaren Ungleichheiten kommt nun der verfassungsrechtliche Grundsatz der gleichen Wahl ins Spiel. Natürlich kann der Gleichheitsgrundsatz keine makellose Gleichheit dort erzwingen, wo das unmöglich ist. Statt dessen verpflichtet er dazu, Ungleichheiten dann zu vermeiden, wenn das möglich ist. Die Frage lautet somit, ob das Mandatzuteilungsergebnis so ausfällt, dass die Erfolgswerte der Wählerstimmen so wenig ungleich sind wie möglich.

Die Antwort hängt davon ab, mit welchem Abweichungsmaß die Ungleichheiten bewertet werden [1]. Bei der Auswahl des Abweichungsmaßes besteht ein gewisser Ermessensspielraum. Zwei Zugänge erscheinen mir sowohl besonders systemkonform [3] als auch besonders verträglich mit dem Tenor, der in den zahlreichen Wahlrechtsentscheidungen der Verfassungsgerichte durchklingt [4,5]. Der erste Zugang zielt auf den paarweisen Vergleich je zweier Erfolgswerte, der zweite vergleicht alle Erfolgswerte mit dem Idealwert 1.

Unterschied je zweier Erfolgswerte

Ist eine Partei mit dem Zuteilungsergebnis nicht zufrieden und will ein Mandat mehr haben, so muss dieses Mandat einer anderen Partei weggenommen werden. In einer Verteilungsrechnung muss deshalb die Verbesserung an einer Stelle aufgerechnet werden gegen die notwendig damit einhergehende Verschlechterung an anderer Stelle. Es braucht also mindestens zwei Beteiligte, um einen Erfolgswertvergleich zu bewerkstelligen.

Betrachten wir ein spezielles Paar und vergleichen den Erfolgswert einer für die Partei i abgegebenen Wählerstimme und den Erfolgswert einer für eine andere Partei j abgegebenen Wählerstimme. Als Erfolgswertunterschied nehmen wir die betragsmäßige Differenz her: U(i,j) = | (mi / M) / (vi / V) – (mj / M) / (vj / V) |. Wenn ein einziger dieser Unterschiede U(i,j) dadurch verkleinert werden kann, dass ein Mandat zwischen Partei i und Partei j transferiert wird, dann sollte dieser Transfer stattfinden. Denn die vor dem Transfer bestehende Erfolgswertungleichheit ist in ihrem Ausmaß vermeidbar, die aus dem Mandatstransfer resultierende Neuzuteilung kommt der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen näher.

Eine Mandatszuteilung, bei der keiner der vielen möglichen paarweisen Erfolgswertunterschiede durch einen Sitztransfer verkleinert werden kann, macht die Ungleichheit der Erfolgswerte zwischen je zwei beliebigen Wählerstimmen so klein wie möglich und ist in diesem ersten Sinn erfolgswertoptimal.

Vergleich aller Erfolgswerte mit dem Idealwert

Alternativ kann man alle Wählerstimmen gleichzeitig betrachten und die Abweichungen ihrer Erfolgswerte vom idealen Erfolgswert 1 messen. Besonders gut eignet sich dafür das Abweichungsquadrat [ (mi / M) / (vi / V) – 1 ]2, weil es kleine Abweichungen mit einem geringeren Gewicht versieht als große und man sich gewiss lieber den einfachen Fehler zweimal, als den doppelten einmal gefallen läßt (C.F. Gauß).

Da vi Wählerstimmen auf die Partei i entfallen, tritt dieses Abweichungsquadrat vi-mal auf. Über die gesamte Wählerschaft hinweg, von der ersten bis zur letzten Partei, ergibt sich zwischen realisierten und idealen Erfolgswerten die Summe der Abweichungsquadrate zu

v1 [ (m1 / M) / (v1 / V) – 1 ]2 + ... + vl [ (ml / M) / (vl / V) – 1 ]2.

Wenn durch einen Mandatstransfer von einer Partei zu einer anderen die Summe der Abweichungsquadrate verkleinert werden kann, dann sollte das geschehen. Denn die vor dem Mandatstransfer bestehende Erfolgswertungleichheit wird durch den Transfer gemildert, die neue Zuteilung kommt der Erfolgswertgleichheit näher. Eine Mandatszuteilung, bei der die so gemessenen Gesamtabweichungen vom Idealwert 1 so klein wie möglich werden, ist in diesem zweiten Sinn erfolgswertoptimal.

Die erfolgswertoptimale Mandatszuteilung

Dass bei den beiden sehr unterschiedlichen Optimalitätskriterien dasselbe Attribut erfolgswertoptimal verwendet werden darf, findet seinen Grund darin, dass in beiden Fällen das Optimum von ein- und derselben Mandatszuteilungsmethode realisiert wird, nämlich der Divisormethode mit Standardrundung. Diese Überschneidung ist eine Bestätigung dafür, dass die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen eine Vorgabe darstellt, die für Verhältniswahlsysteme überaus natürlich und angemessen ist.

Zudem hat die Methode weitere herausragende Eigenschaften [2,7]. Unter der Internetadresse www.uni-augsburg.de/bazi/ stellen wir das Java-Applet Bazi – Berechnung von Anzahlen mit Zuteilungsmethoden im Internet bereit, in dem diese und andere Mandatszuteilungsmethoden implementiert sind und das eine Datenbank inklusive aller Bundestagswahlen umfasst.

Es gibt diverse Rechenwege, das zur Divisormethode mit Standardrundung gehörende Zuteilungsergebnis zu bestimmen. Das Datenhandbuch des Deutschen Bundestages beschreibt die Rechenschritte in Form eines Rangmaßzahlverfahrens und spricht vom Proportionalverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers. Ein zweiter Rechenweg ergibt sich als Höchstzahlverfahren mit der Teilerfolge 0.5, 1.5, 2.5, ...; dies ist ähnlich zur Methode D'Hondt, die die Teilerfolge 1, 2, 3, ... benutzt. Der dritte und für Computer effizienteste Algorithmus springt in einem Zug nahe an das Zuteilungsergebnis hin und beseitigt dann die wenigen Diskrepanzen, die gelegentlich auftreten können. Die unterschiedlichen Rechenwege brauchen den Nutzer aber überhaupt nicht zu interessieren, denn die Methode ist dadurch ausgezeichnet, dass die Kontrolle, ob ein vorgelegtes Zuteilungsergebnis stimmt, spektakulär einfach ausfällt.

Die Proberechnung folgt dem Motto Teile und runde! Der Schlüssel ist ein Divisor D, der zusammen mit den Mandatszahlen der Parteien ausgegeben wird. Die auf Partei i entfallende Stimmenzahl vi wird durch D geteilt und der Quotient vi / D standardmäßig – das heißt, kaufmännisch – gerundet. Das Rundungsergebnis ist die Mandatszahl der Partei i. Diese denkbar einfachste aller Proberechnungen spiegelt sich im Namen wider: Divisormethode mit Standardrundung.

Bevor wir die Divisormethode mit Standardrundung an Hand des Wahlergebnisses der Bundestagswahl 2002 vorführen, bleibt festzuhalten, dass sie sowohl hinsichtlich ihrer äußerst transparenten Proberechnung überzeugt, aber mehr noch weil sie besser als jede andere Zuteilungsmethode mit der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen harmoniert. Es ist diese Wählerorientiertheit, die ihr angesichts des demokratischen Ideals, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht, eine besondere Berechtigung verleiht.

Teil II: Praxis

In die Rechnungen für die Mandatszuteilungen gehen nur die zuteilungsberechtigten Stimmen ein, das heißt diejenigen gültigen Zweitstimmen, die auf eine Partei entfallen, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen auf sich vereinigt oder mindestens drei Direktmandate erhält oder eine nationale Minderheit vertritt. Die Gesamtzahl der zuteilungsberechtigten Stimmen betrug bei der vergangenen Bundestagswahl V = 44 620 479. Abzüglich der beiden von der PDS gewonnenen Direktmandate standen M = 596 Mandate für die Verhältnisrechnung zur Verfügung.

Das Bundeswahlgesetz schreibt eine zweistufige Zuteilungsrechnung vor. In der Oberzuteilung auf Bundesebene werden die 596 Mandate im Verhältnis der zuteilungsberechtigten Stimmen den Parteien zugeteilt. In den anschließenden Unterzuteilungen werden getrennt nach Parteien die Mandate verhältnisgerecht den Landeslisten zugeteilt. Weder Ober- noch Unterzuteilungen berücksichtigen Direktmandatsgewinne; etwaige Saldi bleiben als Überhangmandate bestehen. Zur Entlastung der folgenden Tabellen benutzen wir die Länderkürzel aus Tabelle 1.

Die Mandatszuteilung gemäß Bundeswahlgesetz

Das geltende Bundeswahlgesetz schreibt für die Zuteilungsrechnungen die Methode von Hare/Niemeyer vor. Sie folgt dem Motto Teile und ordne! Die Methode beruht auf der (starren) Quote Q = V / M = 44 620 479 / 596 = 74 866.6, mit der für jede Partei i der Quotient qi = vi / Q berechnet wird. In der Hauptzuteilung erhält Partei i so viele Mandate, wie der ganzzahlige Teil des Quotienten qi ausmacht. In der Restzuteilung werden die Bruchteilsreste der Quotienten q1, ..., ql nach fallender Größe geordnet und die restlichen Mandate in dieser Reihenfolge vergeben.

Tabelle 2 stellt für 2002 die Mandatszuteilung gemäß der Hare/Niemeyer-Methode dar. Die erste Zeile enthält die Oberzuteilung von 596 Mandaten an die Parteien auf Bundesebene, angegeben ist erst die Stimmenzahl und dann die Mandatszahl. Dann folgen spaltenweise die Unterzuteilungen an die Parteien. Im Abgleich mit den Direktmandatsgewinnen ergeben sich schließlich vier Überhangmandate für die SPD (+1 in HH, +2 in ST, +1 in TH) sowie eines für die CDU (+1 in SN). Zusammen mit den zwei PDS-Mandaten umfasst der Bundestag also 603 Abgeordnete.

Die erfolgswertoptimale Mandatszuteilung

Tabelle 3 enthält das Zuteilungsergebnis, das sich mit der Divisormethode mit Standardrundung ergibt. Ebenfalls angegeben sind Divisoren, um die Proberechnung zu erleichtern. Um beispielsweise die 247 Mandate für die SPD zu bestätigen, wird deren Stimmenzahl 18 488 668 durch 75 000 geteilt und das Ergebnis 246.52 aufgerundet zu 247. Analog entfallen auch bei den anderen Parteien auf 75 000 Stimmen jeweils rund ein Mandat.

Die Rolle des Divisors 75 000 kann von jeder Zahl zwischen 74 762.9 und 75 004.7 übernommen werden. Dagegen würden für kleinere Zahlen insgesamt mehr als 596 Mandate vergeben, für größere weniger; diese Bereiche sind also mit der vorgegebenen Gesamtmandatszahl 596 nicht verträglich. Im verbleibenden Zulässigkeitsbereich ist der Divisor 75 000 nur dadurch ausgezeichnet, das er als Vielfaches von Tausend besonders schön heraussticht.

Der Divisor ist hier ein beweglicher Wahlschlüssel, im Gegensatz zur starren Quote bei der Hare/Niemeyer-Methode. Ausschlaggebend ist eben nicht die Plausibilität irgendwelcher Zwischenrechnungen, sondern die Erfolgswertorientiertheit des Endergebnisses. Wir illustrieren die Erfolgswertoptimalität an Hand der vorliegenden Zahlen.

Der einzige Unterschied beim Übergang von Tabelle 2 zu Tabelle 3 tritt bei der Unterzuteilung der 189 CDU-Mandate an die Landeslisten auf, indem ein Mandat von SN nach BB transferiert wird. Der Unterschied der Erfolgswerte (ohne Überhangmandate) je einer in BB und SN abgegebenen Wählerstimme sinkt dadurch von 0.1539 auf 0.1530. Die Summe der Abweichungsquadrate über alle 15 Landeslisten der CDU sinkt von 20 620.4 auf 20 554.7. Der Mandatstransfer mildert somit die Erfolgswertungleichheit, die in Tabelle 2 nach dem geltenden Bundeswahlgesetz verbleibt, und führt in diesem Sinn zu einer messbaren Verbesserung in Tabelle 3.

Im Abgleich mit den Direktmandatsgewinnen ergeben sich bei Anwendung der Divisormethode mit Standardrundung wie vorher vier Überhangmandate für die SPD (+1 in HH, +2 in ST, +1 in TH). Nun aber kommen zwei Überhangmandate für die CDU (+2 in SN) hinzu. Zusammen mit den zwei PDS-Mandaten würde der Bundestag also 604 Abgeordnete umfassen.

Der Anfall von Überhangmandaten ist nicht eine Eigenart der Mandatszuteilungsmethoden und hilft nicht, die Methoden gegeneinander abzuwägen. Das Problem schafft sich das Bundeswahlgesetz, weil es von der Intention her eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl will, aber dann eine Verhältnisrechnung bestimmt, bei der diese Verbindung nicht hergestellt wird. Für die Divisormethode mit Standardrundung ist es auf Grund der Beweglichkeit des Divisors aber nicht schwierig, die Intention des Bundeswahlgesetzes in die Praxis umzusetzen.

Eine Verbindung von Direktmandatsgewinnen und erfolgswertoptimaler Mandatszuteilung

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer schwachen Stunde bemerkt, Überhangmandate seien eine notwendige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl. Das ist Humbug. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Verbindung zwischen Personenwahl und Verhältniswahl auch im Mandatszuteilungsverfahren herzustellen und Überhangmandate von vorneherein gar nicht erst entstehen zu lassen. Ein Weg, der mit dem bundesdeutschen Wahlsystem besonders verträglich erscheint [3], sei dargestellt.

Die Landeslisten der Parteien bekommen mindestens so viele Mandate zugeteilt, wie sie Direktmandate gewonnen haben, andernfalls wird der Verhältnisrechnung gefolgt. Für dieses Vorgehen bietet sich die Divisormethode mit Standardrundung an, einerseits weil sie auf Grund der Beweglichkeit des Divisors es leicht macht, die notwendigen Anpassungen umzusetzen, andererseits weil sie von der Erfolgswertorientiertheit so viel rettet, wie es die Berücksichtigung der Direktmandatsgewinne erlaubt.

Tabelle 4 zeigt das Zuteilungsergebnis einer mit den Direktmandatsgewinnen verbundenen Anwendung der Divisormethode mit Standardrundung. Ist w die Anzahl der Wahlkreisgewinne und z die Mandatszahl aus der Divisorrechnung, dann wird die größere dieser beiden Zahlen zugeteilt. In der Tabelle geben wir das in der Form w v z an. Wenn eine Landesliste kein Direktmandat gewonnen hat (Fall w = 0), ist nur z zitiert.

Wo in den Tabellen 2 und 3 Überhänge bestanden, bestimmt nun die Zahl der Direktmandatsgewinne das Zuteilungsergebnis; in den anderen Fällen wird wie früher auf die Verhältnisrechnung zurück gegriffen. Bei der SPD wirkt die Vergrößerung des Divisors von 74 400 in Tabelle 3 auf nun 76 000 den Überhängen entgegen, bei der CDU steigt der Divisor von 75 500 auf 75 700. Die Größe des Divisors stellt wiederum sicher, dass genau die vorgegebene Anzahl von Mandaten zugeteilt wird, nicht mehr und nicht weniger.

Soweit es die Direktmandatsgewinne zulassen, werden die Erfolgswerte so optimiert wie das oben beschrieben ist. Das heißt ein Mandatstransfer, der die Direktmandatsgewinne der beiden betroffenen Parteien nicht verletzt, wird den Unterschied der Erfolgswerte zweier für diese Parteien abgegebenen Wählerstimmen vergrößern, wie auch die Summe der Abweichungsquadrate aller Erfolgswerte vom Idealwert 1. Die Erfolgswertoptimalität des Zuteilungsergebnisses wird also nur dadurch eingeschränkt, dass Direktmandatsgewinne garantiert werden, bleibt aber ansonsten erhalten. Diese mit den Direktmandatsgewinnen verbundene Verhältnisrechnung macht Überhangmandate obsolet.

Ausblick

Die vom Bundesverfassungsgericht für Verhältniswahlsysteme geforderte Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen ist ein Treffer ins Schwarze. Bei Verwendung der Divisormethode mit Standardrundung kann man zahlenmäßig vorrechnen, dass dem so präzisierten Gleichheitssatz in einem Maße Rechnung getragen wird, wie das praktisch nur irgendwie möglich ist. Die vom Bundeswahlgesetz bestimmte Zuteilungsmethode von Hare/Niemeyer ist damit zwar nicht identisch, weicht aber nur minimal davon ab.

Die größere Herausforderung stellt der Umgang mit Überhangmandaten dar. Die vom Bundeswahlgesetz angestrebte Verbindung von Personenwahl und Verhältniswahl wird im Verrechnungsverfahren, das das Gesetz vorschreibt, nicht umgesetzt. Die Verbindung ließe sich wie in Tabelle 4 leicht herstellen, sofern man will.

Ob eine Systemkorrektur zur Abschaffung der Überhangmandate gewollt wird, hängt von den Beteiligten ab. Beteiligte an der Wahl sind Wähler, Gewählte und Parteien. Da in der Regel die Regierungskoalition begünstigt wird, ist es verständlich, dass Überhangmandate aus parteilicher Sicht als staatstragende Prämie zu Gunsten der Mehrheit eher begrüßt als in Frage gestellt werden. Und die Mandatsträger freuen sich, dass einige mehr als sonst zum Zuge kommen.

Bleiben die Wähler, deren Interessen bei der Gewaltenteilung im Staat vom Bundesverfassungsgericht gewahrt werden, wie zuletzt in dem 1997 ergangenen Überhangsmandatsurteil. Angesichts der Spaltung des erkennenden Senats verläuft sich das zweiundsiebzigseitige Urteil im Dickicht der Details und verliert den vom Gericht selbst geschaffenen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen aus den Augen [6].

Literatur

[1] M.L. Balinski / H.P. Young: Fair Representation – Meeting the Ideal of One Man, One Vote. Second Edition. Washington DC, 2001. [Erste Auflage: New Haven CT, 1982.]

[2] A.W. Marshall / I. Olkin / F. Pukelsheim: «A majorization comparison of apportionment methods in proportional representation.» Social Choice and Welfare 19 (2002) Heft 4.

[3] F. Pukelsheim: «Mandatszuteilungen bei Verhältniswahlen: Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen.» Allgemeines Statistisches Archiv 84 (2000) 447-459.

[4] F. Pukelsheim: «Mandatszuteilungen bei Verhältniswahlen: Vertretungsgewichte der Mandate.» Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 83 (2000) 76-103.

[5] F. Pukelsheim: «Mandatszuteilungen bei Verhältniswahlen: Idealansprüche der Parteien.» Zeitschrift für Politik – Organ der Hochschule für Politik München 47 (2000) 239-273.

[6] F. Pukelsheim: «Bundestagswahl 2002: Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen zwischen Anspruch und Wirklichkeit.» In Vorbereitung.

[7] K. Schuster / F. Pukelsheim / M. Drton / N.R. Draper: «Seat biases of apportionment methods for proportional representation.» Electoral Studies 21 (2002) Heft 4.

 

 

 

Tabelle 1: Länderkürzel
SH Schleswig-Holstein
HH Hamburg
NI Niedersachsen
HB Bremen
NW Nordrhein-Westfalen
HE Hessen
RP Rheinland-Pfalz
BW Baden-Württemberg
BY Bayern
SL Saarland
BE Berlin
BB Brandenburg
MV Mecklenburg-Vorpommern
SN Sachsen
ST Sachsen-Anhalt
TH Thüringen

 

 

 

Tabelle 2: Zuteilung der Hare/Niemeyer-Methode (BWahlG)
SPD CDU CSU Grüne FDP
Oberzuteilung von 596 Mandaten im Verhältnis der zuteilungsberechtigten Stimmen
D 18 488 668 247 14 167 561 189 4 315 080 58 4 110 355 55 3 538 815 47
Unterzuteilungen der Parteimandate an die Landeslisten
SH  743 838   10  625 100     8  162 425 2  139 417 2
HH  404 738     5+1  270 318     4  156 010 2   65 574 1
NI 2 318 625   31 1 673 495   22  353 644 5  342 990 5
HB  183 368     2   92 774     1   56 632 1   25 306 0
NW 4 499 388   60 3 675 732   49  930 684 12  978 841 13
HE 1 355 496   18 1 266 054   17  366 032 5  280 927 4
RP  918 736   12  967 011   13  190 645 2  223 761 3
BW 1 989 524   27 2 543 789   34  676 342 9  461 801 6
BY 1 922 551   26 4 315 080 58  562 483 7  332 675 4
SL  295 521     4  224 842     3   48 602 1   41 110 1
BE  685 170     9  484 017     6  274 008 4  124 004 2
BB  707 871   10  339 868     4   68 765 1   88 685 1
MV  405 415     5  294 746     4   34 180 0   52 816 1
SN  861 685   12  868 167   12+1  119 530 2  187 759 2
ST  618 016     8+2  415 486     6   48 574 1  108 267 1
TH  578 726     8+1  426 162     6   61 799 1   84 882 1

 

 

 

Tabelle 3: Zuteilung der Divisormethode mit Standardrundung
SPD CDU CSU Grüne FDP
Oberzuteilung von 596 Mandaten im Verhältnis der zuteilungsberechtigten Stimmen
(Divisor = 75 000)
D 18 488 668 247 14 167 561 189 4 315 080 58 4 110 355 55 3 538 815 47
Unterzuteilungen der Parteimandate an die Landeslisten
SH  743 838   10  625 100     8  162 425 2  139 417 2
HH  404 738     5+1  270 318     4  156 010 2   65 574 1
NI 2 318 625   31 1 673 495   22  353 644 5  342 990 5
HB  183 368     2   92 774     1   56 632 1   25 306 0
NW 4 499 388   60 3 675 732   49  930 684 12  978 841 13
HE 1 355 496   18 1 266 054   17  366 032 5  280 927 4
RP  918 736   12  967 011   13  190 645 2  223 761 3
BW 1 989 524   27 2 543 789   34  676 342 9  461 801 6
BY 1 922 551   26 4 315 080 58  562 483 7  332 675 4
SL  295 521     4  224 842     3   48 602 1   41 110 1
BE  685 170     9  484 017     6  274 008 4  124 004 2
BB  707 871   10  339 868     5   68 765 1   88 685 1
MV  405 415     5  294 746     4   34 180 0   52 816 1
SN  861 685   12  868 167   11+2  119 530 2  187 759 2
ST  618 016     8+2  415 486     6   48 574 1  108 267 1
TH  578 726     8+1  426 162     6   61 799 1   84 882 1
Divisor 74 400 75 500 75 000 77 000 76 000

 

 

 

Tabelle 4: Zuteilung der mit den Direktmandatsgewinnen verbundenen Divisormethode mit Standardrundung
SPD CDU CSU Grüne FDP
Oberzuteilung von 596 Mandaten im Verhältnis der zuteilungsberechtigten Stimmen
(Divisor = 75 000)
D 18 488 668 247     14 167 561 189     4 315 080 58     4 110 355 55     3 538 815 47
Unterzuteilungen der Parteimandate an die Landeslisten
(Zuteilung = Maximum von Direktmandatsgewinn oder Divisormethode-Mandatszahl)
SH  743 838 10 v 10  625 100   1 v   8  162 425 2  139 417 2
HH  404 738   6 v   5  270 318   4  156 010 2   65 574 1
NI 2 318 625 25 v 31 1 673 495   4 v 22  353 644 5  342 990 5
HB  183 368   2 v   2   92 774 1   56 632 1   25 306 0
NW 4 499 388 45 v 59 3 675 732 19 v 49  930 684 12  978 841 13
HE 1 355 496 17 v 18 1 266 054   4 v 17  366 032 5  280 927 4
RP  918 736   7 v 12  967 011   8 v 13  190 645 2  223 761 3
BW 1 989 524   7 v 26 2 543 789 30 v 34  676 342 9  461 801 6
BY 1 922 551   1 v 25 4 315 080 43 v 58  562 483 7  332 675 4
SL  295 521   4 v   4  224 842 3   48 602 1   41 110 1
BE  685 170   9 v   9  484 017 6  274 008 1 v 4  124 004 2
BB  707 871 10 v   9  339 868 4   68 765 1   88 685 1
MV  405 415   5 v   5  294 746   2 v   4   34 180 0   52 816 1
SN  861 685   4 v 11  868 167 13 v 11  119 530 2  187 759 2
ST  618 016 10 v   8  415 486   5   48 574 1  108 267 1
TH  578 726   9 v   8  426 162   1 v   6   61 799 1   84 882 1
Divisor 76 000 75 700 75 000 77 000 76 000

 

 

Professor Dr. Friedrich Pukelsheim
Institut für Mathematik der Universität Augsburg
86315 Augsburg
E-Mail: Pukelsheim@Math.Uni-Augsburg.De

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