Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.2020, Nr. 208, S. 6
Fehlleistung Wahlrechtsreform
Die Parteiführungen von CDU, CSU und SPD wollen das
  Bundestagswahlrecht ändern. Ihr Vorschlag zur "Dämpfung" der Zahl
  der Abgeordneten ist jedoch wenig wirksam. Überdies ist er
  verfassungsrechtlich problematisch und demokratiepolitisch prekär. 

Von Professor Dr. Florian Grotz und Professor Dr. Friedrich Pukelsheim

Kurz vor Mitternacht des 25. August 2020 verkündeten die Vorsitzenden
von CDU, CSU und SPD eine Einigung bei der Reform des Wahlrechts. Um
eine weitere Vergrößerung des Bundestages zu verhindern, sollen ab
2021 "bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen" bleiben und bei der
Sitzverteilung im ersten Zuteilungsschritt "eine teilweise Verrechnung
von Überhang- mit Listenmandaten der gleichen Partei ermöglicht"
werden. Ab 2025 soll dann "die Zahl der Wahlkreise auf 280 reduziert"
werden. Schließlich soll zeitnah eine Kommission aus Abgeordneten,
Wissenschaftlern und weiteren Mitgliedern eingesetzt werden, um
"Vorschläge zu weiteren Fragen des Wahlrechts" - insbesondere zur
Senkung des Wahlalters, zur Dauer der Legislaturperiode und zur
paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Bundestag - zu
entwickeln.

Die Koalitionsspitzen zeigten sich damit sichtlich zufrieden. Der
bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach von einem
"fairen Kompromiss", der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans lobte
die "wichtigen Bremsen, die da eingezogen werden", und die
CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer äußerte die Überzeugung,
dass bereits der "erste Dämpfungsschritt" dazu beitragen werde, "dass
der nächste Bundestag auf jeden Fall nicht größer wird als der
jetzige". Es sei nun "an der Opposition, sich an diesen Schritten
konstruktiv zu beteiligen". FDP, Grüne und Linke übten dagegen scharfe
Kritik an dem Beschluss der Parteiführungen.

Ist das der lang ersehnte Durchbruch bei der Wahlrechtsreform? Die
Regelungen im Bundeswahlgesetz haben inzwischen eine Komplexität
erreicht, die für Nichtspezialisten kaum noch nachvollziehbar
ist. Immerhin wollen alle Parteien die übermäßige Vergrößerung des
Parlaments eindämmen. Weil aber zugleich die Verbindung von
Direktmandaten in Einerwahlkreisen und bundesweitem
Zweitstimmenproporz erhalten bleiben soll, ist der Handlungsspielraum
stark eingeschränkt.

Die möglichen Reformoptionen setzen nicht nur unterschiedliche
Schwerpunkte, sondern haben auch "Risiken und Nebenwirkungen". Daher
sollte man die Messlatte nicht zu hoch legen und einen
Änderungsvorschlag nicht gleich zurückweisen, weil er in bestimmten
Hinsichten nicht optimal ist. Allerdings darf man von einer gelungenen
Wahlrechtsreform erwarten, dass sie erstens die Vergrößerung des
Bundestages deutlich zurückführt und die im Gesetz genannte Sollgröße
von 598 Sitzen ernst nimmt, zweitens einer verfassungsgerichtlichen
Prüfung standhält und drittens von einer breiten Mehrheit im Parlament
mitgetragen wird. Der Koalitionsbeschluss erfüllt keines der drei
Kriterien. Um diese Einschätzung zu begründen, blicken wir zunächst
zurück.

Die Reform des Bundestagswahlrechts beschäftigt Politik und
Öffentlichkeit seit mehr als zwölf Jahren. Im Juli 2008 hatte das
Bundesverfassungsgericht das bisherige Wahlsystem für
verfassungswidrig erklärt. Der Grund war ein widersinniger Effekt, der
2005 bei einer Nachwahl in Dresden auftrat. Dabei konnte die CDU durch
einen Verlust an Zweitstimmen einen Mandatsgewinn verbuchen. Ein
solches "negatives Stimmgewicht" sollte durch eine gezielte
Wahlrechtsänderung ein für alle Mal verhindert werden. Doch die Reform
ließ auf sich warten. 2012 schritt Karlsruhe abermals ein, nachdem die
Regierungskoalition aus Union und FDP eine für sie günstige, aber
verfassungswidrige Wahlrechtsänderung beschlossen und die Opposition
dagegen geklagt hatte. 2013 kam dann ein breiter Kompromiss zustande:
Mit Ausnahme der Linken verständigten sich alle Bundestagsparteien,
sämtliche Überhangmandate vollständig auszugleichen und so den
proporzverzerrenden Effekt des negativen Stimmgewichts zu
beseitigen. Seither wird die Sollgröße so weit erhöht, bis sich alle
Direktmandate in die Verhältnisrechnung einfügen lassen.

Das politische Einvernehmen für diese Reform konnte leicht hergestellt
werden, weil alle Bundestagsparteien von den anfallenden Überhang- und
Ausgleichsmandaten gleichermaßen profitieren. Das neue Wahlsystem hat
nur den "Schönheitsfehler", dass die tatsächliche Bundestagsgröße weit
über 598 Sitze hinauswachsen kann. Das passiert vor allem dann, wenn
die stärkste Partei verhältnismäßig wenige Zweitstimmen erhält und
trotzdem einen Großteil der Direktmandate gewinnt. Da in den
Wahlkreisen die relative Mehrheit ausreicht, ist dieses Szenario auch
ohne Stimmensplitting möglich. 2017 genügten etwa der siegreichen
Wahlkreiskandidatin in Berlin-Mitte 23,5 Prozent der Erststimmen für
ihr Direktmandat. Die Daumenregel lautet also: Je weniger Stimmen die
erstplazierte Partei erhält und je klarer ihr Abstand zur
zweitplazierten ist, desto größer wird der Bundestag. Genau in diese
Richtung hat sich das deutsche Parteiensystem entwickelt. Die Union
hat erheblich an Stimmenanteilen eingebüßt, liegt aber noch immer so
deutlich vor den anderen Parteien, dass sie die meisten Wahlkreise
gewinnt. 2017 hat diese Konstellation zu 111 Überhang- und
Ausgleichsmandaten geführt und die Anzahl der Abgeordneten auf 709
erhöht. Wie gleich gezeigt wird, ist das noch nicht die maximale
Bundestagsgröße. Wenn man neuere Wahlumfragen zugrunde legt, könnten
es 2021 auch 800 Mandate oder mehr werden.

Das Vergrößerungsproblem des Wahlsystems war den politischen
Entscheidungsträgern von Anfang an bewusst. Der damalige
Bundestagspräsident Norbert Lammert mahnte mehrfach eine Reform
an. Sein Nachfolger Wolfgang Schäuble setzte im Juli 2018 eine
interfraktionelle Arbeitsgruppe ein, die einen konsensfähigen
Vorschlag entwickeln sollte. Im März 2019 ging die Gruppe ergebnislos
auseinander. Ein daraufhin von Schäuble selbst lancierter Vorschlag
wurde von allen Fraktionen vehement abgelehnt. Natürlich fällt es
jedem Abgeordneten schwer, einer Rückführung der Parlamentsgröße
zuzustimmen und damit seine Wiederwahlchancen zu schmälern. Hinter der
Kompromissunfähigkeit der Fraktionen verbirgt sich freilich ein
tieferliegendes Problem: Alle möglichen Reformoptionen sind für die
einzelnen Parteien mit gegensätzlichen Vor- und Nachteilen verbunden.

Grundsätzlich gibt es vier Ansätze, den Mandatsaufwuchs im Rahmen des
geltenden Wahlrechts zu begrenzen. Erstens kann man Überhangmandate -
Direktmandate, die nicht in die Verhältnisrechnung eingefügt werden -
unausgeglichen lassen, wie es vor 2013 der Fall war
(Tolerierung). Dadurch würde sich die Bundestagsgröße um die
wegfallenden Ausgleichsmandate verringern. Allerdings hat das
Bundesverfassungsgericht die Höchstzahl unausgeglichener
Überhangmandate auf 15 begrenzt. Daher kann eine Tolerierung die
Vergrößerung des Bundestags auch nur begrenzt aufhalten. Außerdem
bekommen dann die Parteien mit Überhangmandaten einen Mandatsbonus,
der weder durch ihre besondere Stimmenstärke begründet noch durch den
Zweitstimmenproporz gedeckt ist. Da CDU und CSU derzeit die
allermeisten Überhangmandate gewinnen, plädieren sie für eine
Tolerierung, während die anderen Parteien sie strikt ablehnen.

Zweitens kann man Überhangmandate, die eine Partei in einem Bundesland
erzielt hat, mit ihren Listenmandaten in einem anderen Land verrechnen
(Kompensation). Das verringert die Anzahl der auszugleichenden
Überhangmandate auf Kosten der Landeslisten, in denen die betreffende
Partei wenige Direktmandate erzielt hat. Voraussetzung dafür ist, dass
die Partei zwei oder mehr Landeslisten angemeldet hat. Bei der CSU
kann daher keine Kompensation stattfinden. Bei der CDU käme es dagegen
zu einer Mandatsumverteilung zu Lasten bestimmter Landesverbände.

Drittens könnte man die Direktmandate mit den schlechtesten
Erststimmenergebnissen, die nicht durch den Zweitstimmenproporz
gedeckt sind, streichen (Kappung). Dadurch würde die Sollgröße des
Bundestages immer eingehalten. Allerdings bleiben dann so viele
Wahlkreise unbesetzt, wie Überhangmandate gekappt werden müssen. Davon
wäre absehbar die Union betroffen, während die anderen Parteien damit
leben könnten.

Viertens könnte man die Wahlkreise so verändern, dass möglichst keine
Partei mehr Direkt- als Listenmandate gewinnt (Wahlkreisreform). Im
Lichte vergangener Wahlergebnisse und aktueller Umfragedaten wäre der
Anteil der Direktmandate auf etwa vierzig Prozent zu senken (von 299
auf 240). Damit würde der Mandatsaufwuchs effektiv begrenzt. Da aber
alle Abgeordneten, ob sie nun in Wahlkreisen oder über Landeslisten
gewählt sind, ihre politische Basisarbeit an der gegebenen
Wahlkreisstruktur ausrichten, ist eine Wahlkreisreform quer über die
Parteien hinweg höchst unbeliebt.

Die institutionellen Eigeninteressen der Bundestagsparteien erklären
auch ihre unterschiedlichen Reformaktivitäten nach dem Scheitern der
Schäuble-Kommission. Die Oppositionsfraktionen konnten sich schnell
auf eine Lösung verständigen. Im Oktober 2019 präsentierten FDP, Linke
und Grüne einen gemeinsamen Gesetzentwurf, der eine Absenkung des
Direktmandatsanteils auf vierzig Prozent bei einer erhöhten Sollgröße
von 630 Sitzen vorsah. Dieser Vorschlag hätte erwarten lassen, dass
die tatsächliche Bundestagsgröße der Sollgröße entspricht oder nur
knapp darüber liegt. Seine Behandlung im Bundestag wurde allerdings
von den Regierungsparteien blockiert.

Inhaltlich hätte sich die SPD-Fraktion dem Oppositionsentwurf
wahrscheinlich anschließen können, wollte aber keinen
Koalitionskonflikt mit der Union riskieren. Daher legte die SPD im
Februar 2020 einen eigenen, zweistufigen Vorschlag vor. Für die
Bundestagswahl 2021 sollte eine feste Obergrenze von 690 Mandaten
gelten; darüber hinausgehende Überhang- und Ausgleichsmandate sollten
als "Notfalllösung" gekappt werden. Danach sollte eine Kommission aus
Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern eine langfristig tragfähige
Wahlrechtsreform ausarbeiten, wobei der paritätischen Repräsentation
von Männern und Frauen besondere Bedeutung zukam. Die
Oppositionsparteien hätten sich wohl mit diesem Vorschlag anfreunden
können, aber die CDU/CSU lehnte ihn rundheraus ab.

Die Union brauchte mit Abstand am längsten für ihre inhaltliche
Positionierung. Vor allem die CSU-Landesgruppe, deren Mitglieder alle
in Wahlkreisen gewählt sind, sperrte sich gegen jedwede Änderung bei
den Direktmandaten. Am 30. Juni 2020 trat das Gesetz in Kraft, das die
Einteilung der 299 Wahlkreise für die Bundestagswahl 2021
festlegt. Tags darauf präsentierte die Unionsfraktion ein Modell, das
eine moderate Verringerung der Wahlkreise von 299 auf 280 und eine
Tolerierung von sieben Überhangmandaten vorsah. Aus Sicht der SPD kam
diese Initiative zu spät, um eine Wahlkreisreform für die kommende
Wahl umzusetzen. Gleichwohl ließ sie sich auf Verhandlungen mit der
Union ein, die jetzt auf ein rasches Ergebnis drängte. Als sich die
Führungen der Regierungsfraktionen nicht einigen konnten, wurde die
Entscheidung in den Koalitionsausschuss verschoben, dem schließlich
die Verständigung gelang.

Blickt man aus parteipolitischer Sicht auf die Koalitionsvereinbarung,
ist die CSU klare Siegerin. Die kleinste Bundestagspartei hat bei der
kommenden Wahl keinerlei Änderungen zu befürchten und zudem gute
Chancen, eines der unausgeglichenen Überhangmandate zu erhalten. Die
von ihr ungeliebte Wahlkreisreform ist auf 2025 verschoben. Diese
Vorteile gelten auch für die CDU, allerdings muss sie sich auf
innerparteiliche Konflikte einstellen, weil wegen der geänderten
Kompensationsregelung die Landesverbände, auf die Listenmandate
entfallen, mehr Mandate abgeben müssen als bisher. Die SPD kann sich
lediglich zugutehalten, dass der Unionsvorschlag in verwässerter Form
realisiert wird und ihre weiteren Anliegen in der Reformkommission
besprochen werden. Die Oppositionsparteien könnten sich mit der
internen Kompensation anfreunden, aber nicht mit den unausgeglichenen
Überhangmandaten. Bei der Umsetzung der Reform sind sie laut
Koalitionsvereinbarung nicht eingebunden, sondern dürfen nur in der
geplanten Kommission mitarbeiten, in der es um andere Fragen geht.

Dass jede Partei die Einzelheiten von Reformvorschlägen aus ihrem
eigenen Blickwinkel bewertet, liegt in der Natur der Sache. Das
Beruhigende und Einigende einer Verhältniswahl ist, dass sie bei der
Sitzzuteilung jede Partei gleich behandelt, nämlich getreu ihrem
bundesweiten Wählerzuspruch. Wie aber wirkt sich der "erste
Dämpfungsschritt" der Koalitionsvereinbarung auf die Größe des
Bundestages aus? Dies sei anhand von drei Szenarien illustriert: der
Bundestagswahl vom 24. September 2017, Umfragedaten von Civey vom
24. Dezember 2019 und Umfragedaten von Emnid vom 18. Januar
2020. Unter dem geltenden Wahlgesetz ergeben sich hierfür
Bundestagsgrößen von 709, 791 und 822 Sitzen.

In der Koalitionsvereinbarung heißt es, dass der erste
Zuteilungsschritt im Bundeswahlgesetz modifiziert werden
soll. Allerdings lässt die Formulierung offen, ob dabei dem im Vorfeld
entwickelten Vorschlag der CDU/CSU oder dem der SPD zu folgen
ist. Wendet man die Unionsmodifikation mit den drei unausgeglichenen
Überhangmandaten an, ergeben sich Bundestagsgrößen von 686, 768 und
797 Sitzen. Die SPD-Modifikation mit drei Überhängen verhält sich
etwas sparsamer und führt zu 675, 760 und 794 Sitzen. Man kann sich
die Auswirkungen des ersten Dämpfungsschritts auch ohne die
unausgeglichenen Überhangmandate ansehen. Natürlich steigt die
Bundestagsgröße dann wieder an, aber dieser Anstieg fällt
bemerkenswert moderat aus. Ohne Überhänge endet die Unionsmodifikation
bei 700, 778 und 807 Sitzen, die SPD-Modifikation bei 700, 769 und
804. Das bedeutet also, dass die nichtkompensierten Überhangmandate
bei einem starken Aufwuchs von rund 200 Mandaten lediglich zehn davon
"einsparen" würden. Der Dämpfungseffekt der SPD-Modifikation liegt in
diesen Fällen immerhin doppelt so hoch.

Jenseits aller Zahlen ist frappant, wie unterschiedlich die beiden
Modifikationen formuliert sind. Die Unionsmodifikation besteht aus
einem Dickicht von Schachtelsätzen und Querbezügen. Um sich
durchzukämpfen, muss man Beispielauswertungen zur Hand nehmen und
akribisch Zeile für Zeile den Bezug von Wörtern und Zahlen
nachverfolgen. Pro Szenario zwölf Seiten. Dagegen passt eine
Wahlauswertung mit der SPD-Modifikation auf eine Seite. Auch die
textliche Formulierung ist transparent und lesbar. Diese Fassung würde
das kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht auf eine neue und
verständliche Grundlage stellen. Nicht zuletzt würde sie auch
Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der Opposition eröffnen.

Insgesamt kommt der erhebliche Dämpfungseffekt, den die
Koalitionsvereinbarung verspricht, mit keiner der beiden
Modifikationen verlässlich zustande. Eher rückt für 2021 eine weitere
Vergrößerung des Bundestags ins Blickfeld, die zugegebenermaßen etwas
geringer ausfällt, als wenn man gar nichts täte. Angesichts dieser
Aussichten ist die Bundestagsverwaltung gut beraten, ihre vorsorgliche
Reservierung von Bürocontainern aufrechtzuerhalten. Die Frage ist
nicht, ob sie gebraucht werden, sondern wie viele davon.

Auch in verfassungsrechtlicher Perspektive wirft die
Koalitionsvereinbarung Bedenken auf. Im Zentrum stehen hier die
unausgeglichenen Überhangmandate, die in vielerlei Hinsicht
kritikwürdig sind. Sie entstehen nun nicht mehr eher beiläufig,
sondern werden ausdrücklich postuliert und im Gesetz
institutionalisiert. Außerdem könnte durch die unausgeglichenen
Überhangmandate wieder ein negatives Stimmgewicht entstehen, das zu
einem ungerechtfertigten Mandatsbonus führt. Am besten lässt sich das
an einem ähnlichen Fallbeispiel verdeutlichen wie der Dresdener
Nachwahl von 2005, nur dass der Wahlkreis jetzt in Bayern liegt, in
dem die CSU absehbar die relative Stimmenmehrheit hält. Wenn bei
dieser hypothetischen Nachwahl die CSU-Anhänger nur ihre Erststimme
dem CSU-Direktkandidaten geben, aber ihre Zweitstimme ungenutzt
lassen, könnte der CSU-Mandatsanteil, der bei der Oberverteilung nach
bundesweitem Zweitstimmenproporz ermittelt wird, wegen der geringeren
Zweitstimmen um ein Mandat sinken. Da die CSU jedoch weiterhin das
Direktmandat gewinnt, kann dieses Mandat zu einem "echten"
Überhangmandat werden, wenn das Kontingent der tolerierten
Überhangmandate noch nicht ausgeschöpft ist. So erhält die CSU durch
weniger Zweitstimmen einen Mandatsvorteil gegenüber den anderen
Bundestagsparteien. Das Beispiel ist zwar konstruiert, doch lag genau
so ein Fall dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 gegen
das seinerzeitige Wahlgesetz zugrunde. Somit hätte eine Klage gegen
die jetzige Reform gute Erfolgsaussichten, zumal die Karlsruher
Richter an anderer Stelle deutlich gemacht haben, dass bei
"Regelungen, die die Bedingungen politischer Konkurrenz berühren, die
parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird"
und deswegen die "Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten
verfassungsgerichtlichen Kontrolle" unterliegt.

Dies führt uns zum letzten Kriterium einer gelungenen
Wahlrechtsreform: der breiten Akzeptanz im Parlament. Aufgrund seiner
historischen Genese zählt das Bundeswahlgesetz zu den wenigen
Grundregeln der deutschen Demokratie, für deren Änderung keine
Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Allerdings ist die
Regierungsmehrheit gut beraten, die Oppositionsparteien bei jeder
Wahlrechtsänderung einzubeziehen. Denn sie könnten nicht nur gegen
eine "einseitige" Reform erfolgreich klagen (wie 2011), sondern auch
nach der nächsten Wahl der neuen Regierung angehören und dann das
Wahlgesetz nach eigenen Vorstellungen ändern. Wenn aber das Wahlsystem
nicht mehr als demokratische Grundregel begriffen wird, die man nur im
breiten Konsens reformiert, sondern zum Spielball der jeweiligen
Mehrheit wird, wird die institutionelle Stabilität massiv
beeinträchtigt. Daher ist es bedenklich, dass die
Koalitionsvereinbarung keine Beteiligung der Opposition bei der
Wahlrechtsreform vorsieht. Stattdessen wollen die Koalitionsspitzen
sogar die künftige Bundestagsmehrheit mit ihrem jetzigen Beschluss
über die ab 2025 geltende Wahlkreisreform binden. Da auch diese
Änderung die Parlamentsvergrößerung nicht hinreichend eindämmen kann,
hätte die neue Regierung allen Grund, wieder Hand an das Wahlrecht zu
legen. Im schlimmsten Fall droht dann eine unbegrenzte Fortsetzung
untauglicher Reformen.

In einem Interview mit der F.A.S. vom 30. August 2020 bedauerte
Bundestagspräsident Schäuble, "dass die Fraktionen keine Reform
hinbekommen, die den Namen verdient. Und dass Parteivorsitzende, die
nicht mal dem Parlament angehören, dann die Entscheidung verkünden,
entspricht nicht meinem Verständnis von parlamentarischer Demokratie."
Tatsächlich ist es bitter, dass der Bundestag bislang nicht in der
Lage war, die allseits als notwendig erachtete Wahlrechtsreform in
eigener Regie durchzuführen. Doch auch der Koalitionsausschuss hat
keine überzeugende Lösung gefunden. Die vereinbarten
"Dämpfungsschritte" hemmen die Vergrößerung des Bundestages nur wenig,
die unausgeglichenen Überhangmandate werfen verfassungsrechtliche
Probleme auf, und das regierungszentrierte Verfahren ist
demokratiepolitisch prekär und signalisiert eine Geringschätzung des
Parlaments.

Daher sollte der Koalitionsbeschluss nochmals überdacht werden. Die
Modifikation des ersten Zuteilungsschritts ist sicherlich sinnvoll,
sofern die SPD-Version zugrunde gelegt wird. Die Unionsmodifikation
würde dagegen den bestehenden Verfahrensdschungel vollends in ein
undurchdringliches Regelungsdickicht ausarten lassen. Zudem sollten
die unausgeglichenen Überhangmandate gestrichen werden: Sie dämpfen
den Mandatsaufwuchs nur marginal und öffnen eine rechtliche und
politische Angriffsflanke gegen die gesamte Reform. Wenn die Regierung
einen unkontrollierten Mandatsaufwuchs bei der Bundestagswahl 2021
verhindern will, bleibt aufgrund des Zeitdrucks nur die Option, eine
Maximalgröße des Bundestages von beispielsweise 690 Mandaten
festzusetzen und dann überzählige Direktmandate und die damit
einhergehenden Ausgleichsmandate nicht zu vergeben. Wenn dies
ausdrücklich als einmalig anzuwendender Notfallmechanismus formuliert
würde, könnte der Union die Zustimmung leichter fallen.

Noch wichtiger wäre freilich, jetzt endlich den Weg für eine
langfristig tragfähige Wahlrechtsreform zu bereiten. Die einzusetzende
Reformkommission böte dazu Gelegenheit. Allerdings sollte sie nicht
aus Parlamentariern und Wissenschaftlern bestehen, sondern aus
zufällig ausgelosten Bürgern, die sich von Experten in öffentlichen
Anhörungen beraten lassen und einen Reformvorschlag
ausarbeiten. Anderswo sind mit solchen Bürgerforen gute Erfahrungen
gemacht worden, etwa in der kanadischen Provinz British Columbia. Am
Ende würde der Bundestag über diesen Vorschlag abstimmen und damit
letzte Entscheidungsinstanz bleiben. So könnten die Abgeordneten den
inzwischen nicht mehr unabweisbaren Vorwurf entkräften, dass sie zu
einer echten Wahlrechtsreform nicht bereit und fähig sind. Der
parlamentarischen Demokratie wäre damit ein großer Dienst erwiesen.

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Florian Grotz lehrt Politikwissenschaft an der
Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg.

Friedrich Pukelsheim ist emeritierter Professor für Mathematik der
Universität Augsburg.
 
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