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Neue Zürcher Zeitung, 223. Jg., Nr. 100, 2. Mai 2002, Internationale Ausgabe Seite 36 (Feuilleton)


Ein Ideal und seine Tücken

Zwei Klassiker der Wahlliteratur neu aufgelegt

Mirabeau sah als Erster im Parlament eine getreue Kopie des Volkes: «Im Kleinen wie im Grossen soll die Kopie dieselben Proportionen haben wie das Original.» Dies 1789 formulierte Ideal der proportionalen Repräsentation hat einen grandiosen Siegeszug durch die ganze Welt angetreten. Die einschlägigen Publikationen sind kaum mehr zu überschauen und werden zudem gelegentlich von modischen Strömungen oder parteilichen Interessen verfremdet. Umso mehr Gewicht kommt den Meistern des Fachs zu, und zwei in Neuauflage erschienene Meisterwerke seien hier gegenübergestellt. Dieter Nohlens «Wahlrecht und Parteiensystem», nun in der dritten Auflage, gehört zur Standardliteratur im deutschsprachigen Bereich. Michel L. Balinskis und H. Peyton Youngs «Fair Representation», jetzt in der zweiten Auflage, ist ein Klassiker aus der Neuen Welt.

Geschichte

Nohlen vermittelt eine grandiose Gesamtschau von Wahlsystemen. Zu Beginn des Buchs werden die grundlegenden Begriffsbildungen herausgearbeitet. Mehrheitswahl und Verhältniswahl stellen die Pole dar, an denen sich die Klassifikation der Wahlsysteme orientiert. Entscheidungsprinzip und Repräsentationsprinzip markieren die Eckpunkte ihrer Zweckbestimmung. Das Hauptgewicht liegt auf der Darstellung der Wahlsysteme der Länder dieser Welt. Mit einer phänomenologischen Sichtweise lässt Nohlen die Leser teilhaben an seinen gewachsenen Einsichten, wie Wahlsysteme nach unterschiedlichen Rahmenbedingungen gestaltet werden.

«Fair Representation» ist ein Kontrastprogramm. Das Buch - eine Glanzleistung interdisziplinärer Zusammenarbeit des Politologen Peyton Young und des Mathematikers Michel Balinski - besteht aus zwei Teilen. Die ersten hundert Seiten erzählen die Geschichte des Systems, die Sitze des US-Repräsentantenhauses den Bundesstaaten proportional zu ihren Einwohnerzahlen zuzuteilen. Wie die Generationen diesen Verfassungsanspruch verstanden, wie sich das Problem angesichts einer enormen Migrationsrate - Go West! - wandelte, wie die Lösungsvorschläge zwischen nationalen und parteilichen Interessen schwankten: Fesselnder als von Balinski und Young kann der Hergang wohl kaum erzählt werden. Die formelgespickte zweite Hälfte belegt, dass die vorangehende Erzählung auf einem sicheren Fundament aufbaut. Aus dieser speziellen Fallstudie leiten die Autoren allgemein gültige Aussagen her, deren Botschaft weiter tragen würde, gäbe es das Buch nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Deutsch.

Der Gewinn solcher Lektüre sei am Beispiel der Sitzverzerrungen illustriert, die je nach Sitzzuteilungsmethode anders ausfallen. Sitzverzerrungen messen die durchschnittlichen Abweichungen der tatsächlich zugeteilten Sitzzahlen vom (mittels Dreisatz berechneten) Idealanspruch an Sitzbruchteilen. Balinskis und Youngs Ziel ist, diejenigen Zuteilungsmethoden herauszufiltern, die unverzerrt sind, also alle beteiligten Parteien im Durchschnitt gemäss ihrem Proporzanspruch bedienen. Ein Hauptbeispiel ist die spezielle Zuteilungsmethode, die als Rechenvorschrift in den schweizerischen Nationalratsproporz eingeht, je nach Umfeld benannt nach Eduard Hagenbach-Bischoff (1833-1920), Victor D'Hondt (1841-1902) oder Thomas Jefferson (1743-1826). Diese Methode verzerrt die Sitzzuteilungen zugunsten der grösseren Parteien und auf Kosten der kleineren Parteien. In einem Dreiparteiensystem etwa kann bei zwölf Wahlen die grösste Partei fünf Extrasitze über den Idealanspruch hinaus erwarten, wohingegen die mittlere Partei um einen und die kleinste um vier Sitze ihren Idealanspruch verfehlen.

Ein vergessener Pionier

Diese handfesten Richtwerte wurden schon 1918 in der «Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft» veröffentlicht. Der Autor war Georg Pólya (1887-1985), einer der grossen Mathematiker seiner Zeit. Seine «Collected Papers» umfassen vier Bände, die Sammlung seiner Photographien - zu Lebzeiten schon legendär und postum veröffentlicht - ist ein Dokument der Wissenschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Pólya, von Geburt Ungar, wurde 1914 an die ETH Zürich berufen und heiratete 1918 Stella Weber aus Neuenburg. In dieser Zeit verfasste er fünf Aufsätze zur Proportionalwahl, in denen er die in den Kantonen gerade eingeführten Verhältniswahlsysteme analysierte. Die praktische Relevanz seiner theoretischen Ergebnisse demonstrierte er mittels der Stimmenzahlen der Solothurner Kantonsratswahlen 1896-1917, so wie Balinski und Young ihre Ausführungen mit den Bevölkerungszahlen der US-Volkszählungen 1791-2000 belegen. Pólya bezeichnete seine Ergebnisse zu den Sitzverzerrungen zwar klar und deutlich als «das wichtigste Resultat dieser Abhandlung». Trotzdem blieben seine Arbeiten ungelesen, weder Nohlen noch Balinski und Young erwähnen überhaupt nur Pólyas Namen.

In qualitativer Hinsicht waren die auftretenden Sitzverzerrungen den Politikern schon früh bewusst. Da die Verzerrungen umso ausgeprägter ausfallen, je mehr Parteien sich zur Wahl stellen, sucht man ihnen dadurch entgegenzuwirken, dass die kandidierenden Parteien zum Zwecke der Zuteilungsrechnung Listenverbindungen eingehen dürfen. Listenverbindungen sichern zwar nicht die Unverzerrtheit der Sitzzahlen, aber sie dämpfen die Verzerrungen zumindest ein wenig. Allerdings kommen sie nicht der legitimationsstiftenden Bindungswirkung des demokratischen Wahlakts zugute. Denn Listenverbindungen bringen die Wähler in die eher kuriose Situation, in der Wahlkabine zwischen Parteien differenzieren zu sollen, die, kaum dass die Wahllokale geschlossen haben, sich zusammentun und gemeinsam marschieren.

Balinski und Youngs Buch endet jedoch nicht mit der entmutigenden Botschaft, dass diese Zuteilungsmethode diese Schwächen habe und jene Methode jene. Stattdessen stellen die Autoren die konstruktive Aussage in den Vordergrund, dass die scheinbar kleinen Unterschiede, die Sitzzuteilungsmethoden kennzeichnen, erkennbar grosse Auswirkungen nach sich ziehen und in ihrer Gesamtheit unter allen Methoden eine auszeichnen. Dies ist die Divisormethode mit Standardrundung, benannt auch nach Daniel Webster (1782-1852) oder André Sainte-Laguë (1882-1950). Die Sitzzahlen dieser Methode sind unverzerrt, im Durchschnitt kann jeder Beteiligte erwarten, was ihm als Idealanspruch zusteht. Damit entfällt auch die Motivation, Listenverbindungen einzugehen. Die von Balinski und Young propagierte Methode zeichnet sich noch durch weitere Tugenden aus, für die auf das Buch selbst verwiesen sei. Es garantiert Lesevergnügen der Meisterklasse.

Friedrich Pukelsheim

Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem. Dritte Auflage. Leske und Budrich, Opladen 2000. 479 S., Fr. 25.80.

Michel L. Balinski / H. Peyton Young: Fair Representation - Meeting the Ideal of One Man, One Vote. Second Edition. Brookings Institution Press, Washington DC 2001. 195 S., $ 36.95.

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