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UniPress—Zeitschrift der Universität Augsburg 4/2002, Seite 26-31


Llull, Cusanus, Borda, Condorcet:
Eine interdisziplinäre Zeitreise zum Thema Wahlen

von Friedrich Pukelsheim

Schon mal als Hinweis auf die Tage der Forschung 2002, die vom 11. bis zum 13. November stattfinden werden, sei hier der Eröffnungsvortrag dokumentiert, mit dem der Mathematiker Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim am 5. November des vergangenen Jahres auf die Tage der Forschung 2001 und deren Motto «Interdisziplinarität als Leitbegriff der Forschung» eingestimmt hat. Zugleich ist dies der erste und letzte Beitrag von UniPress zum tobenden Bundestagswahlkampf: im Wortlaut wiedergegeben und insofern authentisch wie vermutlich nichts, was Sie sonst noch so im Wahlkontext lesen oder hören werden.

Mit Siebenmeilenstiefeln, meine Damen und Herren, werde ich in den folgenden dreißig Minuten die Zeit durchmessen, um Ihnen Interdisziplinäres zum Thema Wahlen vorzutragen. Wir starten im einundzwanzigsten Jahrhundert, mit einigen Bemerkungen zu den heute gültigen Wahlgrundsätzen. Das nächste Kapitel ist Nikolaus von Kues gewidmet, fünfzehntes Jahrhundert. Dann wenden wir uns dem Star des Tages zu: dem katalanischen Religionsphilosoph Ramon Llull, dreizehntes Jahrhundert. Schließlich kehren wir über das achtzehnte Jahrhundert mit Borda und Condorcet zum heutigen Abend zurück. Vier Jahrhunderte in dreißig Minuten: Sputen wir uns.

Wahlgrundsätze 2001

Wenn ein Mathematiker den Mund aufmacht, erwarten die Zuhörer Zahlen. Also sei's drum: hier sind welche.

Zweitstimmen Mandate
SPD 20 131 269 +50 000 285 0
CDU 13 974 908 +30 000 198 0
CSU 3 309 480 +15 000 47 0
Grüne 3 296 624 +5 000 47 0
FDP 3 080 725 +213 44 -1
PDS 2 515 684 -213 35 +1

Für die im amtierenden Bundestag vertretenen Parteien sind in der zweiten Spalte schwarze Stimmenzahlen angeschrieben, in aktueller Größenordnung. In der rechten Spalte sind sie gemäß Bundeswahlgesetz in Mandate verrechnet. Nach der Wahl 1998 musste sich der Wahlprüfungsausschuss mit dem Einspruch beschäftigen, wegen eines Wahlirrtums 213 Stimmen der kleinsten Partei abzuziehen und statt dessen der zweitkleinsten Partei hinzuzuzählen, wie in der Tabelle angedeutet. Die Frage war, ob dieser Stimmentransfer auch einen Mandatstransfer nach sich zieht. Bei weniger Stimmen drohen weniger Mandate - der Gedanke erscheint doch wohl der ganzen Welt selbstverständlich. Der ganzen Welt? Nein! Hier und da gibt es unbeugsame Mathematiker, die als selbstverständlich nur hinnehmen, was als selbstverständlich bewiesen ist. Und bei solch impertinenter Rigorosität verkommt manche Selbstverständlichkeit zu Wunschdenken.

Denn es hätte sein können, dass bei der Wahlprüfung weitere Stimmen auftauchen und auch die vier großen Parteien dazugewinnen, so wie in der Tabelle mit grauen Zuwächsen angezeigt. Wendet man jetzt das Bundeswahlgesetz an, so ergibt sich zwar ein Mandatstransfer, aber der ist von einer Art, dass der Selbstverständlichkeit der Himmel auf den Kopf fällt. Die letzte Partei gewinnt trotz Stimmenverlusts ein Mandat hinzu, die vorletzte muss trotz Stimmengewinns ein Mandat hergeben! Dass ein Stimmengewinner ein Mandat abgeben muss an einen Stimmenverlierer, erscheint paradox. Weshalb der Wahlprüfungsausschuss dem Bundestag vorgeschlagen hat, die derzeitige Mandatszuteilungsmethode, benannt nach dem Engländer Thomas Hare und dem Deutschen Horst Niemeyer, durch eine paradoxienfreie zu ersetzen, benannt nach dem Franzosen André Sainte-Laguë und dem Deutschen Hans Schepers. Die strukturellen Eigenschaften solcher Methoden sind das eigentliche Objekt meiner mathematischen Begierde, aber heute Abend will ich das nicht weiter vertiefen.

Statt dessen klettern wir eine Argumentationsebene höher. Denn wo steht geschrieben, dass eine Paradoxie, die Mathematiker irritiert, Politiker überhaupt nur interessiert? Ist ein paradoxienfreies Wahlsystem außer für Mathematiker auch für ihre Mitmenschen erstrebenswert? Auf diese Frage gibt es keine innermathematische Antwort. Nicht die Mathematik liefert die Gütekriterien, um Wahlsysteme zu beurteilen, sondern die Politikwissenschaft und das Verfassungsrecht. Das heißt, es wird ernst mit der Interdisziplinarität, und arbeitsam. Herr Schultze und ich führten im Wintersemester 1997/8 ein politikwissenschaftlich-mathematisches Seminar über Wahlverfahren in der Demokratie durch. Im Sommersemester 2000 folgte zusammen mit Herrn Masing ein verfassungsrechtlich-mathematisches Seminar über Juristische und mathematische Probleme des Wahlrechts. Beide interdisziplinären Seminare haben den Lehrenden wie auch den Lernenden viel gebracht, zum Beispiel das folgende.

Die Wahlgrundsätze, denen eine Bundestagswahl zu genügen hat, stehen in Artikel 38 des Grundgesetzes. Eine gesunde Hand voll: allgemein und unmittelbar muss die Wahl sein, frei, gleich und geheim. Bevor Sie an Ihren Fingern nachzählen, hier eine kleine Merkhilfe. Allgemein und ohnmittelbar klingen in meinen Ohren wie Alpha und Omega; frei, gleich und geheim imitiert die Trilogie von liberté, egalité und - na ja, eine etwas geheime - fraternité.

Leider vermittelt die Merkregel Zeitbezüge, die ganz danebenliegen. Denn mein Alpha, der Grundsatz der allgemeinen Wahl, klingt nach biblischer Ewigkeit, ist tatsächlich jedoch das jüngste Kind in der Familie, der revolutionär-radikaldemokratische Beitrag der Neuzeit. Sie und ich, Professoren und Studenten, Männer und Frauen: wir alle wählen. Die Wahl ist eben nicht mehr wie früher nur auf ein kleines Wahlkollegium beschränkt, ein ständisches wie das Kurfürstenkollegium oder ein klerikales wie das Kardinalskollegium. Für die übrigen Wahlgrundsätze aber gilt, dass - bezogen auf ein nichtallgemeines, eingeschränktes Wahlkollegium - sie schon weit vor der Neuzeit heiss und innig diskutiert wurden.

Nikolaus von Kues 1401-1464

Der Grundsatz der geheimen Wahl ist ein Paradebeispiel für einen langen geschichtlichen Vorlauf. Denn, so heisst es schon im Mittelalter, die Geheimhaltung der Stimmabgabe verhindert zweierlei. Einerseits verhindert sie, dass die Wähler für sich einen Vorteil suchen und ihre Stimme als Ware den Kandidaten feilbieten. Andererseits wird verhindert, dass die Kandidaten den Wählern Angst machen und sie unter Druck setzen. Durch die geheime Wahl sollen möglichst große Freiheit unter den Wählern und Friede unter allen gewahrt werden. Diese Begründung traf damals genau so ins Schwarze wie heute. Der das so formulierte, war Nikolaus von Kues.

Nikolaus von Kues 1401-1464 Das Bild stammt aus der Kapelle des Sankt Nikolaus-Hospitals in Kues an der Mosel, wo er als Stifter nach den Gepflogenheiten der Zeit auf dem Altarbild eingemalt wurde. Ein Besuch lohnt, so wie wir in Augsburg unsere Gäste in die Fuggerei führen. Als Lokalpatrioten betonen wir, dass die Fuggerei die älteste Sozialsiedlung in deutschen Landen sei: zu betonen wäre dabei Siedlung. Denn Nikolaus von Kues stiftete sein Armenhospital 1458, also gut sechzig Jahre früher, bevor Jakob Fugger der Reiche die Fuggerei stiftete. Allerdings bietet der Baukomplex des Sankt Nikolaus-Hospital dreiunddreißig Plätze, während die Fuggereisiedlung fast zehnmal so viel Bewohner aufnimmt. Was meinem mathematischen Empfinden suggeriert, dass Augsburg damals mindestens zehnmal größer war als Kues, und der Fugger mindestens zehnmal reicher als der Nikolaus.

Nikolaus von Kues war Politiker, Theologe, Philosoph. Ohne adelige Herkunft - geboren in Kues als Sohn eines Moselschiffers - stieg er in glanzvoller Karriere auf bis zum Kirchenfürst und wurde einer von damals vierundzwanzig Kardinälen an der römischen Kurie. Nur ein weiterer Deutscher war auch Kardinal: der Bischof von Augsburg, Petrus von Schaumberg (1388-1469). Nikolaus von Kues wurde 1401 geboren, vor sechshundert Jahren also. Oder andersherum: Heuer feiert er einen sehr runden Geburtstag, den sechshundertsten. Er wäre einen eigenen Vortrag wert, aber heute Abend beschränken wir uns auf das Notwendigste.

Im Jahr 1433 legt Nikolaus von Kues die Schrift vor, die ihn berühmt macht: De concordantia catholica - Von der allumfassenden Eintracht, ein eindringliches Plädoyer für den Zusammenhalt von Kirche und Staat. Die autoritative Edition der Concordantia catholica stammt von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 1963, als der Nicolai de Cusa Opera omnia vierzehnter Band. 1927 erschien der erste Band, De docta ignorantia - Die belehrte Unwissenheit, herausgegeben von Ernst Hoffmann und Raymund Klibansky. Der zwanzigste Band mit den von Menso Folkerts edierten mathematischen Arbeiten wird das Jahrhundertprojekt abschliessen, vielleicht noch in diesem Winter, sonst im nächsten Frühjahr.

Dass ich mich in unserer Universitätsbibliothek darin und in den übrigen siebeneinhalb laufenden Metern Cusana zurechtgefunden habe, verdanke ich der Wegführung von Herrn Immenkötter. Allerdings wurde mein Finderglück getrübt, als ich genauer hinsah: eine Seite genauso unverständlich verschlüsselt für mich wie die andere, nämlich auf Lateinisch. Eine wenige Tage später stattfindende Sitzung unserer universitären Planungskommission kam mir zu Hilfe. Ich beichtete dem vorsitzenden Prorektor Heinz, dass ich in der Schule dem Lateinunterricht nicht so gefolgt war, wie es sich für einen guten Christen gehörte. Als trainierter Pastoraltheologe bot Herr Heinz spontan an, meine Jugendsünden interdisziplinär zu büßen und mir meine Wunschseiten einzudeutschen.

Nikolaus von Kues ergänzt seine abstrakte Einheitsvision mit dem Entwurf konkreter Machtstrukturen. Unter anderem schlägt er ein Wahlsystem vor, mit dem die Sacri imperii electores - Die Kurfürsten des Heiligen Reiches den Deutschen König wählen sollen. Was er dabei zum Grundsatz der geheimen Wahl sagt, habe ich Ihnen schon vorgetragen. Wir sind aber noch nicht fertig mit ihm, besonders kurzweilig geht es in der Fußnote auf Seite 448 zu:

NvK Opera omnia, Band 14, Seite 448

Es wird festgestellt, dass der Nikolaus sein Wahlsystem von einem gewissen Ramon Llull habe. Wir lesen exscriptum esse, und als illiterater Mathematiker übersetze ich das mit Der Schlingel hat abgeschrieben. Allerdings teilen mir die Kollegen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit, dass meine Übersetzung eine ziemlich platte sei, und dass eher gemeint ist, dem Nikolaus habe besagter Traktat des Ramon Llull vorgelegen. Damit wendet sich das Blatt zum Guten, denn das stimmt. Martin Honecker hat 1937 entdeckt, dass Nikolaus von Kues den Llull-Traktat De arte eleccionis - Ein Wahlsystem auf einer Studienreise in Paris 1428 eigenhändig kopierte. In der Tat ist die Abschrift des Nikolaus von Kues die einzige Kopie, die diesen Llull-Text überliefert.

Ramon Llull 1232-1316

Neues Spiel, neues Glück: Ramon Llull, dreizehntes Jahrhundert. Müssen Sie ihn kennen? Ich kannte ihn nicht. Wären Sie mir vor zwei Jahren mit Llull gekommen: ich hätte gedacht, Sie wollten mir von den Sprachfortschritten ihres jüngsten Enkelkinds erzählen. Weit gefehlt. Llull ist ein Großer der Weltgeschichte, geboren in das katalanische Königreich, als es im hohen Mittelalter von Mallorca aus das westliche Mittelmeer beherrschte. Als Katalane wappnet Llull sich mit vier Ell, vorne zwei und hinten zwei.

Ramon Llull 1232-1316 Sein bärtiges Bildnis entstammt einer der schönsten mittelalterlichen Handschriften, die es gibt, seinem Breviculum, einer Kurzfassung ausgewählter Schriften. Auch Llull gäbe leicht Stoff her für einen eigenen Vortrag, aber unsere unbarmherzigen Siebenmeilenstiefel erzwingen heute abend eine Steigerung: von Breviculum zu Breviculissimum. Sehr kurz also beschränken wir uns unter den weit über zweihundert Schriften Llulls auf die drei, in denen er etwas über Wahlsysteme sagt. In äußerst befriedigender interdisziplinärer Zusammenarbeit haben wir sie aufbereitet als Web-Edition - Internet-Edition. Wir: das sind Herr Hägele von der Bibliothek, Herr Reif vom Institut für Informatik und unsere Mitarbeiter Haneberg und Drton.

Zunächst sehen wir uns die dritte und letzte Wahlschrift an, den schon erwähnten Traktat De arte eleccionis - Ein Wahlsystem. Die Handschrift ist die des Nikolaus von Kues, sauber und adrett, wie es sich für einen bibliophilen Gelehrten gehört. Llull verfertigte die Arbeit am 1. Juli 1299 in Paris, wie Sie in der Schlussschrift lesen können: [... sit facienda de personis absentibus fiat eleccio secundum predictum etc.] Factus est iste modus eleccionis parysius anno incarnacionis domini nostri Jhesu Christi Mo ducentesimo xcixo primo die Julii. De[o] gracias. - [...] Dieses Wahlverfahren wurde in Paris angefertigt, am ersten Tag des Juli im Jahr 1299 der Fleischwerdung unseres Herrn Jesus Christus. Dank sei Gott.

De arte eleccionis (1299): Explicit

Die zweite Wahlschrift verfasste Llull sechzehn Jahre vorher, 1283 in Montpellier, und bettete sie in den Erziehungsroman Blaquerna ein, als Kapitel 24. Mein Ausgangspunkt war eine altfranzösische Fassung des Romans und so suchte ich die Hilfe von Herrn Abel. Mit dem Riecher des Kenners meinte Herr Abel, dass ich eigentlich wohl nicht mit einer französischen, sondern mit einer katalanischen Fassung daherkommen sollte, und trug sein ceterum censeo mit einer solchen Penetranz vor, dass ich schließlich nachrecherchierte. Und: Recht hatte er. Die katalanische Version ist nicht nur eine der ältesten Überlieferungen des Romans, sondern als Handschrift auch die schönste. Der Clou vom Ganzen ist, dass sie in Rufweite von hier aufbewahrt wird: in der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

Bevor ich Ihnen die erste Wahlschrift Llulls zeige, und damit die älteste, möchte ich erzählen, was zu ihr hinführte. Ein sehr informatives Bild Llulls wird in einer 1963 erschienenen französischen Habilitationsschrift gezeichnet, wo ich auf Seite 177 wieder einmal über eine Fußnote stolperte.

A. Llinarès: Raymond Lulle-Philosophe de l'action. Seite 177

Der Autor betont, dass viele Arbeiten Llulls Jahrhunderte lang verschollen sind und dann doch wieder auftauchen, und nennt als Beispiel den Traktat De arte eleccionis. Indes schreibt er dessen Wiederentdeckung aber nicht - wie in der Fußnote der Heidelberger Cusanus-Edition - Martin Honecker 1937 zu, sondern zweiundzwanzig Jahre später 1959 Llorenç Pérez Martínez, der auf einen Codex in der Vatikanischen Bibliothek verweist. Sie merken, meine Damen und Herren, irgend etwas stimmt nicht. Ist die Abschrift des Nikolaus von Kues doch kein Unikat? Liegt ein Duplikat dieses Textes in der Vatikanischen Bibliothek? Also erbat ich Kopien der Texte, aus Kues wie auch aus Rom, und wappnete mich mit interstellarer Geduld. Im Norden war erst der Kopierer kaputt und dann fehlte es an Toner, im Süden rechnet man sowieso mit anderen Zeiten. Schließlich traf die ersehnte Post doch ein, vor ziemlich genau dreizehn Monaten.

Wenn Sie sich die Handschrift [weiter unten] ansehen und dabei an das letzte Rezept erinnert werden, das Sie in die Apotheke getragen haben, dann liegen Sie richtig. Der Schreiber war Mediziner, Pier Leoni, gestorben 1492 in Florenz, Leibarzt des prächtigen Lorenzo de' Medici. Dass aus diesem Schriftbild noch ein Text herauszulesen ist, grenzt für mein einfaches Gemüt als Mathematiker an ein Wunder. Mit großem Gewinn habe ich Herrn Hägele in unseren Arbeitssitzungen zugeschaut, wie er einen Buchstabe nach dem anderen entzifferte, bis in der Summe der Text etabliert war.

Aritifitium electionis personarum (c. 1280): Incipit

Ohne Überschrift geht der Text gleich zur Sache: Hec est figura - Dies ist eine Figur, in der jeder Buchstabe für einen der Kandidaten steht und die eine Übersicht bietet über alle denkbaren Buchstabenpaare, das heißt, über die möglichen Paarungen je zweier Kandidaten. Mit dieser buchstäblichen Kombinatorik war Llull seiner Zeit weit voraus, blieb gründlich unverstanden, wurde missbraucht als alchemistisches Feigenblatt, landete auf dem allerchristlichsten Index verbotenener Bücher und wurde erst von der Renaissance wiederentdeckt, also zur Zeit des Nikolaus von Kues und der florentinischen Humanisten.

Bald wurde Herrn Hägele und mir klar, dass wir nicht eine Variante der bekannten Texte vor uns liegen hatten, sondern die erste von Llulls Wahlschriften, die zwar in mittelalterlichen Werkverzeichnissen genannt wird, seither aber als verschollen galt. Dass der Text 1959 von Pérez Martínez wohl katalogisiert wurde, aber trotzdem ungelesen blieb, mag auch daran liegen, dass er überschriftslos beginnt und der Titel nur in der Schlussschrift nachklappert: Finis artifitii electionis personarum. - Dies ist das Ende [unserer Darstellung] eines Systems zur Personenwahl.

AEP: Explicit

Der Erschließung einer solchen Handschrift ist es natürlich dienlich, wenn sie leicht zugänglich auf dem Computer angeboten wird. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Llull reserviert für die Grundwürden, mit denen er Gott charakterisiert, das Wort dignitates, außer in der Frühzeit seines Schaffens. Suchen wir nun in der Transkription nach dem Wortstamm d i g n, so zählen wir sieben Treffer, die sich bei genauem Hinsehen aber keinmal auf Gott beziehen, sondern jedesmal auf die Kandidaten. Womit belegt ist, dass es sich um ein frühes Werk handelt aus der Zeit, bevor Llull seine Sprachregelung festlegte. Der Text dürfte etwa aus der Zeit um 1280 stammen, das heißt, er ist gut 720 Jahre alt!

Analog zu weißen Flecken auf der Landkarte enthält das Manuskript einige schwarze Batzen, etwa wenn wir auf die erste Anmerkung klicken. Bitte lassen Sie mich bitte wissen, wenn Sie im folgenden Ausschnitt beim Übergang von der zweiten zur dritten Zeile etwas anderes lesen als wir: primus alteris in sedibus preponatur - der erste wird den anderen[, die] auf den Stühlen [sitzen,] vorangestellt.

AEP: primus alteris in sedibus preponatur?

In dieser ersten Wahlschrift erklärt Llull die Einzelheiten seines Wahlsystems am klarsten. Die neue Quelle beseitigt damit Unklarheiten, die in den beiden späteren Wahlschriften offen bleiben. Wir können nun mit Sicherheit sagen, dass das Wahlsystem des Llull ein anderes ist als das des Nikolaus von Kues. Beide Systeme bestehen aus einer Abfolge paarweiser Vergleiche, in der jeder Kandidat gegen jeden anderen antritt. Bei Llull gewinnt die Wahl, wer in den meisten Vergleichen siegt, bei Nikolaus von Kues dagegen, wer in der Summe über alle Vergleiche die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Alles klar? Noch einmal, in der Sprache des Fußballs. Bei Nikolaus von Kues wird deutscher Meister, wer über die gesamte Saison hinweg die meisten Tore schießt, bei Llull, wer die meisten Spiele gewinnt.

Borda 1733-1799 und Condorcet 1743-1794

Der Schluss ist schnell erzählt. In der Zeit der Aufklärung, kurz vor der französischen Revolution, wird das Rad neu erfunden. Jean-Charles Chevalier de Borda schlägt 1770 ein Wahlsystem vor, von dem er meint, dass es neu sei, das tatsächlich aber - déjà vu - mit dem des Nikolaus von Kues übereinstimmt. Bordas größter Beitrag zur Geschichte der Menschheit ist die Kreation eines Namens für die neuvermessene Längeneinheit, er nannte sie ein Meter.

Wissenschaft ist zwar nicht immer interdisziplinär, meine Damen und Herren, aber doch durchgängig interdependent. Der Naturwissenschaftler Borda hatte einen einflussreichen Gegenspieler, den Geisteswissenschaftler Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet. Condorcet meinte 1785, Borda mit einem gänzlich neuen Wahlsystem übertrumpfen zu können. Aber - déjà vu - was Condorcet als Neuigkeit anpreist, hatte mehr als ein halbes Jahrtausend vor ihm schon Llull zu Papier gebracht.

Schauen wir genauer in die Geschichte, dann kommt im Streit zwischen Condorcet und Borda dem Thema Wahlen eher nur eine Stellvertreterfunktion zu. Der wahre Streitgrund war viel profaner: es ging um's liebe Geld. Die Französische Akademie der Wissenschaften hatte ein Sonderprogramm für eine HighTech-Offensive aufgelegt und fast die gesamten Mittel flossen in die Naturwissenschaften. Klar, dass Condorcet, als armer Philosoph, zutiefst erbost war über Borda, den reichen Profiteur. Ist es nicht spannend und zugleich entspannend, mit der Gelassenheit zweihundertjähriger Distanz der Geschichte hinter die Kulissen zu blicken?

Eigentlich können sich weder Borda noch Condorcet beklagen, denn es sind ihre Namen, die sich in der einschlägigen Literatur festgesetzt haben. Die Politikwissenschaft spricht vom System Borda und vom System Condorcet so, als hätte es Nikolaus von Kues und Ramon Llull nie gegeben. Erst seit 1990 ist die Verbindung wiederhergestellt, dank einer Arbeit von Iain McLean und John London aus Oxford und dank einer zweiten Arbeit von Altmeister Erich Meuthen aus Köln. Wenn ich diese Namen nenne, dann auch als Anerkennung für die interdisziplinäre Hilfestellung, die diese Kollegen und viele andere Llull- und Cusanus-Experten uns großzügig haben zuteil werden lassen, international wie auch national. Und lokal?

Die ganze Sache hat mir Einblicke in mehr Büros unserer Universität und den darin betriebenen Wissenschaften eröffnet, als ich zwanglos in die dreißigminütigen Siebenmeilenstiefel einschnüren konnte. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank, wie auch meinen Mitarbeitern für die Bilder zu meinen Worten. Damit es nicht nur bei Worten bleibt, blenden wir zum Abschluss eine Adresse ein, wo Sie von Herrn Unwin koordinierte statistische Beratung finden können, sollten Sie Ihrerseits sich mit schwer entzifferbaren Datenproblemen herumschlagen:

www.uni-augsburg.de/statistikberatung

Wenn Sie statt dessen lieber die Gegenwart vergessen wollen, dann surfen Sie einfach bei Llull vorbei:

www.uni-augsburg.de/llull

Mitwirkende: Prof. Dr. F. Abel (Romanistik) · M. Drton (Mathematik) · Dr. G. Hägele (Universitätsbibliothek) · D. Haneberg (Informatik) · Prof. Dr. H. Heinz (Pastoraltheologie) · Prof. Dr. H. Immenkötter (Kirchengeschichte) · Prof. Dr. J. Masing (Staats- und Verwaltungsrecht) · Prof. Dr. W. Reif (Infomratik) · Prof. Dr. R.-O. Schultze (Politikwissenschaft) · Prof. Dr. Antony Unwin (Rechnerorientierte Statistik und Datenanalyse) u.v.a.m.

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