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Neue Zürcher Zeitung, 222. Jg., Nr. 190, 18./19. August 2001, Internationale Ausgabe Seite 51 (Literatur und Kunst)


Die Mathematik der Wahl

Llull, Cusanus, Borda, Condorcet und andere

Von Friedrich Pukelsheim

Wahlsysteme haben ihre Geschichte, ihre Vor- und ihre Nachteile. Sie haben bisweilen auch berühmte und doch vergessene «Väter»: Nikolaus von Kues ist einer, Ramon Llull ein anderer, Condorcet ein dritter. - Ein Rückblick, der zugleich eine Entdeckungsgeschichte ist.

Idealtypisch ist der Wissenschafter von Forscherdrang und Wissensdurst beseelt. Eben jene Eigenschaften, gepaart mit interdisziplinärer Neugier, führten zu einer kleinen kulturgeschichtlichen Schatzsuche, über die hier berichtet werden soll. Wie fast immer in der Wissenschaft besteht der Schatz dabei nicht aus Truhen voller Perlen und Dublonen, sondern «nur» aus einer über die Jahrhunderte verschollenen und nun wiederentdeckten Quelle, einem Text aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ausgangspunkt der Suche war ein interdisziplinäres Seminar zum Thema «Juristische und mathematische Probleme des Wahlrechts», das sich ausser mit den mathematischen und operationalen Vorschriften von Wahlsystemen auch mit den historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen befasste.

Mehr oder weniger zufällig fiel mir zur Zeit der Seminarvorbereitung Hartmut Boockmanns Buch «Wissen und Widerstand - Geschichte der deutschen Universitäten» in die Hände, das zahlreiche Anekdoten aus dem Lauf der Wissenschaftsgeschichte zum Besten gibt. Unter anderem kolportiert es einen mittelalterlichen Spruch, der in zugespitzter Form die Tatsache beschreibt, dass es im Mittelalter durchaus keine Selbstverständlichkeit war, dass Könige und Landesfürsten des Lesens und Schreibens mächtig waren: «Ein König, der nicht schreiben kann, gleicht einem gekrönten Esel.» Zum Beleg führt der Autor eines der grossen Werke des spätmittelalterlichen Kirchenrechtlers Nikolaus Cusanus an, dessen Geburtstag, das sei hier nebenbei erwähnt, sich in diesem Jahr zum 600. Male jährt.

NIKOLAUS VON KUES

Im dritten Buch seines Werkes «De concordantia catholica - Von der allumfassenden Eintracht» entwirft Nikolaus Cusanus in Abschnitt 536 ein System zur Wahl des deutschen Königs, worin er auch Vorkehrungen gegen den gerade erwähnten Bildungsnotstand unter den Mächtigen trifft: Wer von den Kurfürsten die Stimmzettel nicht selbst zu kennzeichnen vermag, weil er des Lesens nicht mächtig ist, darf sich seines Sekretärs bedienen. Dieser Passus ist übrigens ziemlich wortgleich in Paragraph 33 des geltenden deutschen Bundeswahlgesetzes wiederzufinden.

Darüber hinaus, schrieb Cusanus, soll die Stimmabgabe geheim erfolgen. - Der Grundsatz der geheimen Wahl so alten Datums? Von der Sache her war das interessanter als der eher unterhaltsame Analphabetismus der Mächtigen. In der Tat begründet Cusanus den Übergang von der offenen zur geheimen Wahl genau so, wie es unserer zeitgenössischen Argumentation entspricht. Denn, so sagt Cusanus, die Geheimhaltung der Stimmabgabe bewirkt zweierlei. Einerseits verhindert sie, dass die Wähler ihren eigenenVorteil suchen und ihre Stimme an die Kandidaten verkaufen. Andererseits wird verhindert, dass die Kandidaten den Wählern Angst machen und sie unter Druck setzen. Durch die geheime Wahl soll möglichst grosse Freiheit unter den Wählern und Friede unter allen gewahrt werden, so Cusanus im Jahr 1433. Und das galt damals so gut wie heute.

Das Wahlsystem des Cusanus sieht vor, dass jeder Wähler die Kandidaten in aufsteigender Rangfolge anordnet und diese Rangzahl auf den Stimmzetteln markiert. Auf dem Stimmzettel für den seiner Meinung nach untersten Kandidaten kennzeichnet der Wähler also die unterste Rangzahl 1, auf dem Stimmzettel für den zweituntersten die Rangzahl 2 und so weiter bis zum Besten,der die höchste Rangzahl erhält. Am Schluss werden für jeden Kandidaten die Rangzahlen zusammengezählt, und es gewinnt, wer die meisten Rangpunkte auf sich vereinigt.

In unserer heutigen Literatur über Wahlsysteme ist Nikolaus Cusanus erstaunlicherweise ein Anonymus. Sein Wahlsystem aber gehört zum Standardstoff, ist wohlbekannt und firmiert heute unter dem Namen «System Borda». Charles de Borda (1733-1799) lebte im Zeitalter der Französischen Revolution und betätigte sich als Marine-Ingenieur, Geodät und Naturwissenschafter. Wegen anstehender Wahlen in der französischen Akademie der Wissenschaften entwarf er ein «neues» Wahlsystem, das aber - wie gesagt - schon 300 Jahre früher Nikolaus Cusanus vorgeschlagen hatte.

CONDORCET, LLULL

Zu den Zeitgenossen und Konkurrenten von Borda zählte der etwas jüngere Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794). Condorcet begann als Mathematiker, Philosoph und Enzyklopädist, wurde dann Sekretär der Akademie der Wissenschaften, entwarf nach der Französischen Revolution 1789 eine neue Verfassung und stieg zum Präsidenten der Nationalversammlung auf, bis er - als Girondist verfolgt und geächtet - in den Tod getrieben wurde.

Beide, Borda und Condorcet, waren Mitglieder der französischen Akademie der Wissenschaften, der eine in der geisteswissenschaftlichen Klasse, der andere in der naturwissenschaftlichen. Die beiden Herren kannten sich gut und verstanden sich schlecht. Beide hatten ein Wahlsystem entworfen. Der Streit, wie sie ihr eigenes System verteidigen und das des anderen angreifen, ist so bunt und bitter, dass er noch heute der Forschung Freude bereitet. Sorgfältig vermied es Condorcet, Borda beim Namen zu nennen. Stattdessen schrieb er von «dem berühmten Mathematiker», der eigentlich nichts zum Thema Wahlsystem veröffentlicht habe. In einer Fussnote wird dann nachgeschoben, dass das wenige, was er doch veröffentlicht habe, ihm, Condorcet, erst nach Fertigstellung seiner Arbeit bekannt geworden sei. Hätte es die beiden Streithähne beruhigt, dass, was sie als neu für sich reklamierten, schon Jahrhunderte vorher von grossen Geistern gedacht worden war?

Um die Wurzeln von Condorcets Wahlsystem zu ergründen, springen wir um ein halbes Jahrtausend weiter zurück und kommen dem Autor unseres Schatzes näher, dem katalanischen Religionsphilosophen und Missionar Ramon Llull (1232-1316). Llull war einer der grossen Denker des Hochmittelalters, geboren auf Mallorca zu einer Zeit, als von dort aus das katalanische Königreich das westliche Mittelmeer beherrschte. Ausser für Frau und zwei Kinder hatte Ramon Llull beruflich als Staatssekretär für die Erziehung der Königssöhne zu sorgen. Nach einem Bekehrungserlebnis im Jahr 1263 stellte er sich ausschliesslich in den Dienst Gottes mit dem Ziel, Muslime und Juden zum Christentum zu bekehren.

Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen verzichtete Llull dazu auf Gewalt und Zwang. Er wollte nicht durch Diktat zum Christentum zwingen, sondern im Dialog überzeugen. Mit Llull beginnt eine Traditionslinie, die über den Religionsfrieden («De pace fidei») des Nikolaus Cusanus und den weisen Nathan des Gotthold Ephraim Lessing bis heute fortwirkt. Um sein Ziel zu erreichen, entwickelte Llull eine rastlose Reisetätigkeit und verfasste knapp dreihundert Schriften, eine für damalige Verhältnisse schier ungeheure Lebensleistung. Nach einem Werkverzeichnis, das schon zu seinen Lebzeiten 1311 angelegt wurde, hat Llull sich an drei Stellen in seinem Schrifttum zu Wahlsystemen geäussert.

Eine Quelle, deren Überlieferung nie unterbrochen war, ist das Kapitel 24 im Erziehungsroman «Blaquerna», den Llull 1283 fertigstellte. Der junge Mann Blaquerna und das Mädchen Natanne sind sich zugetan, und die Eltern hoffen, dass sie heiraten. Stattdessen beschliessen die jungen Leute, ihr Leben der religiösen Vervollkommnung zu widmen. Natanne wird Nonne und wird schliesslich in ihrem Kloster zur Äbtissin gewählt. Blaquerna wird Mönch und ebenfalls Abt seines Klosters. Das Wahlsystem, das Llull in Kapitel 24 des Romans für die Wahl Natannes zur Äbtissin entwirft, entspricht weitestgehend dem System von Condorcet.

Das System Llull/Condorcet besteht aus einer vollständigen Abfolge von Stichwahlen zwischen je zwei Kandidaten. Wer am häufigsten siegt, gewinnt die Wahl. Das Wahlsystem ist also ein Turnier «jeder gegen jeden», bei dem in den Zweikämpfen die Wähler mit ihren Stimmen den jeweiligen Sieger küren. Wer die meisten Siegpunkte auf sich vereinigt, ist der Gewinner der Wahl. Auch das Wahlsystem von Cusanus/Borda kann man als eine Abfolge von paarweisen Vergleichen darstellen. Hier aber gewinnt nicht, wer in den meisten Stichwahlen siegt, sondern wer in der Summe über alle Wahlgänge die meisten Stimmen auf sich vereinigt. In der Sprache des Fussballs würde das heissen: Beim System Cusanus/Borda wird Meister, wer in der Saison die meisten Tore schiesst, beim System Llull/Condorcet, wer die meisten Spiele gewinnt.

Der Vergleich zeigt aber auch auf, dass beide Systeme mehr leisten, als mit einer Wahl bezweckt wird: Es wird unter den Teilnehmern nicht nur einer ermittelt, der gewinnt, sondern alle werden in eine Rangfolge gebracht. Für die Tabellenliste in einer Fussballliga ist das erwünscht, um alle Teams von den glücklichen Aufsteigern bis hinunter zu den unglücklichen Absteigern zu reihen. Bei Personenwahlen ist aber diese vollständige Reihung ein Zuviel des Guten. Gesucht ist ein Wahlsieger und nur einer, um das Amt eines Abtes (Llull), Königs (Cusanus) oder Vorsitzenden (Borda, Condorcet) zu bekleiden. Angesichts des beträchtlichen Wahlaufwands, den die Systeme von Llull/Condorcet und Cusanus/Borda zudem erfordern, verwundert es deshalb nicht, dass sie heutzutage keine Rolle spielen und Wahlsysteme mit einfacherer Stimmgebung bevorzugt werden.

Die zweite Wahlschrift Llulls, benannt «De arte eleccionis - Ein Wahlsystem», wurde 1937 von Martin Honecker in der weltberühmten Bibliothek des Cusanus-Stifts in Kues wiederentdeckt. Dies ist die einzige Kopie dieses Textes, die uns heute bekannt ist. Vermutlich wurde sie 1428 von Nikolaus Cusanus während eines Studienaufenthalts in Paris angefertigt. Fünf Jahre später formulierte Cusanus in der «Concordantia catholica» sein eigenes Wahlsystem. Nach dem Studium der Llull'schen Vorlage war Cusanus offenbar zum Ergebnis gekommen, dass sein System dem von Llull vorzuziehen sei.

DIE HANDSCHRIFT IM VATIKAN

Zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Llull und Cusanus war mir das 1963 in Frankreich erschienene Buch «Ramon Llull - Philosoph des Handelns» hilfreich. Dort wird betont, dass selbst in jüngster Zeit Werke des Llull wieder auftauchen, die über Jahrhunderte hinweg als verschollen galten, und als Beispiel wird die Schrift«De arte eleccionis» genannt. Deren Wiederentdeckung wird aber nicht dem erwähnten Honecker, sondern Llorenç Pérez Martínez gutgeschrieben, der die Schrift 1959 - also 22 Jahre nach Honeckers Fund - in der Bibliothek des Vatikans gesehen habe.

Also Honeckers Fund doch kein Einzelstück? Lag eine Variante derselben Schrift im Vatikan? Honeckers Übertragung des lateinischen Textes verzeichnet mehrere unlesbare Stellen, insbesondere dort, wo es um die Einzelheiten der Stimmenverrechnung geht. Eine zweite Kopie des Textes sollte erlauben, diese Lücken zu schliessen. Es schien also mehr als angezeigt, die Vatikanische Bibliothek um eine Fotokopie ihrer Handschrift zu bitten.

Die Wartezeit liess die Spannung steigen. Als das vatikanische Exemplar endlich eintraf, machte der Vergleich schnell klar, dass es sich nicht um eine Kopie desselben Textes handelte, den Honecker in der Bibliothek des Cusanus gefunden hatte. Stattdessen war eine eigenständige Schrift aufgetaucht, die dritte von den im mittelalterlichen Katalog aufgeführten Wahlschriften. Sie hatte also seit 1959 - fast ein halbes Jahrhundert lang - im Schoss der Llull-Forschung geschlummert, zwar katalogisiert, aber ungelesen und ohne in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen worden zu sein.

Weitere Nachforschungen zeigten, dass der Text aus der Vatikanischen Bibliothek als der älteste in der Chronologie von Llulls Schaffen zu betrachten ist. Er ist auch der längste, enthält die meisten Einzelheiten und hilft damit, Unklarheiten in den beiden späteren Wahlsystemdarstellungen zu klären. Unbekannt ist, wann und von welcher Vorlage der Kopist - Pier Leoni, seines Zeichens Leibarzt von Lorenzo «Il Magnifico» Medici - die Abschrift anfertigte. Sichtbar ist, dass er nicht gerade Wert auf Leserlichkeit gelegt hat. In faszinierender Sisyphusarbeit konnte die Quelle trotz dem schwierigen Schriftbild von einem Augsburger Handschriftenexperten entziffert werden, Buchstabe für Buchstabe, bis in der Summe der Text etabliert war.

Als Dreingabe war zu lernen, dass das Gegenteil einer Überschrift nicht eine Unterschrift ist, sondern eine Schlussschrift. Dort nämlich findet sich in der wiederentdeckten Quelle der Titel: «Finis artifitii electionis personarum - Dies ist das Ende unseres Systems zur Personenwahl». Womit auch dieser Bericht zu Ende kommt. Der Wissensschatz ist ausgegraben und zur Besichtigung freigegeben. Llulls drei Wahlschriften sind im Internet unter der Adresse www.uni-augsburg.de/llull/ ausgestellt.

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