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Neue Zürcher Zeitung, 225. Jg., Nr. 97, 27. April 2004, Internationale Ausgabe Seite 6 (International)


Lust auf Machtverlust?

Wie EU-Mitgliedstaaten ihren Einfluss beziffern können

Von Friedrich Pukelsheim*

Beim Ringen um Macht und Einfluss im Ministerrat der Europäischen Union geht es zurzeit um die Zahlen der qualifizierten Mehrheiten. Kann man Macht und Einfluss überhaupt beziffern? Der Autor, ein Mathematiker, vertritt diese Meinung und hat sich durch das Tauziehen in der EU zu nachfolgenden Berechnungen inspirieren lassen.

Die zukünftige EU-Verfassung ist offenbar eher eine Frage der Zahlen als der Zeit. Der Entwurf des vorbereitenden Konvents, für Ministerratsbeschlüsse eine doppelte Mehrheit zu verlangen, gewinnt zwar an Unterstützung, aber welche Zahlen festgeschrieben werden, steht in den Sternen. Der Konvent schlug eine 50/60-Mehrheit vor, gemäss der es 50 Prozent der Mitgliedstaaten braucht und diese 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen, um einem Beschluss im Ministerrat Gültigkeit zu verleihen. – Energische Gegner dieser Regelung waren bisher Spanien und Polen. Sie wollten ein – wie auch immer geartetes – anderes Abstimmungssystem, das ihnen mehr Macht bringt. Das Ergebnis der spanischen Parlamentswahlen hat die Fronten aufgeweicht, und der Besuch des deutschen Bundeskanzlers Schröder in Polen hat dem nachgeholfen. Als neuer Kompromiss wird eine 55/55- Mehrheit sondiert (NZZ 24. 3. 04). Doch die Frage, ob eine solche Änderung das Gewünschte bewirkt, scheint Politiker, Diplomaten und Experten nicht sonderlich umzutreiben.

Von Luxemburg bis Nizza

An einer in diesem Monat im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach durchgeführten Tagung über Wahlsysteme hat Moshé Machover (King's College, London) die kuriosen Stationen Revue passieren lassen, die von den bisherigen EU-Abstimmungssystemen durchlaufen wurden. Sie reichen von der «machtlosen» Stellung Luxemburgs im Vertrag von Rom bis zum Vertrag von Nizza, der die Mehrheit im Ministerrat zuerst auf 258 Stimmen festlegt und drei Seiten weiter dann auf 255! Zwischen Paraphierung und Unterzeichnung lagen zwar Monate, doch keiner hat den Unterschied bemerkt.

Machover und sein Koautor Dan Felsenthal (Universität Haifa) haben nun berechnet, welche Auswirkungen der neu ins Spiel gebrachte 55/55-Kompromiss haben wird. Kaum zu glauben, aber amtlich: Deutschland, Spanien und Polen, die Verfechter des Kompromisses, sägen am Ast, auf dem sie sitzen. Sie werden sich mit dem neuen Kompromiss einen messbaren Machtverlust einhandeln. Die Berechnungen beruhen auf 27 Mitgliedstaaten, das heisst, der Beitritt von Bulgarien und Rumänien (im Jahr 2007 vorgesehen) wird vorweggenommen.

Äusserst komplex

Angesichts der Komplexität von Abstimmungssystemen ist verständlich, dass zu ihrer Beschreibung eine einzelne Kennzahl nicht ausreicht. Aber mehrere zusammen erlauben im Verbund ein sicheres Urteil. Ihre Herleitung beruht darauf, für alle denkbaren Koalitionen der künftigen Mitglieder auszurechnen, ob ein Land zur Gewinner- oder Verliererkoalition gehört. Betrachtet man die drei geläufigsten Kennzahlen, springt der Machtverlust der genannten Protagonisten ins Auge:

Wie man es auch dreht und wendet: Deutschland, Spanien und Polen werden unter dem von ihnen vertretenen 55/55-Kompromiss im Ministerrat an Macht verlieren. Es wird wohl ein Staatsgeheimnis bleiben, warum sie zu ihrem eigenen Nachteil damit hausieren gehen. Sie täten besser daran, den Kompromiss sang- und klanglos zu beerdigen und vehement den Konventsvorschlag einer 50/60-Mehrheit zu stützen.

   
Machtstellung im EU-Ministerrat
 
Konvents- Neuer Macht-
vorschlag Kompromiss verlust
50/60 55/55 in %
Deutschland
Absolutmacht 0.302 0.254 -16
Blockademacht 0.690 0.550 -20
Relativmacht 12.796 9.059 -29
Spanien
Absolutmacht 0.155 0.149 -3
Blockademacht 0.353 0.324 -8
Relativmacht 6.547 5.329 -19
Polen
Absolutmacht 0.149 0.143 -4
Blockademacht 0.340 0.311 -9
Relativmacht 6.306 5.120 -19
 
Rechnung für Polen (Konventsvorschlag): Die Absolutmacht (Penrose-Index) geht von den 226 = 67 Millionen Möglichkeiten aus, wie sich die anderen 26 EU-Mitglieder in zwei Lager spalten können. Für die 50/60-Mehrheit ist dabei in 10 Millionen Fällen entscheidend, auf welche Seite sich Polen schlägt; in den übrigen 57 Millionen Fällen kümmert Polens Meinung nicht. Die für Polen gewichtigen Fälle werden ins Verhältnis zur Gesamtzahl gesetzt:
 
10 Millionen / 67 Millionen = 0.149
 
Pro 1000 denkbare Koalitionen wird also Polen 149-mal gehört werden (müssen), beim Kompromissvorschlag nur 143-mal. Die Blockademacht (Coleman-Index) bezieht die für Polen gewichtigen Fälle auf die 29.4 Millionen Fälle, in denen es bei 27 EU-Mitgliedern zu einer 50/60-Mehrheit kommt:
 
10 Millionen / 29.4 Millionen = 0.34
 
Das heisst, pro 100 Beschlussfassungen ist Polens Meinung 34-mal gefragt, beim Kompromissvorschlag nur 31-mal. Die Relativmacht (Banzhaf-Index) gibt an, wie gross Polens prozentualer Anteil an der aufsummierten Absolutmacht aller Mitglieder (2.36) ist:
 
0.149 / 2.36 = 6.3%
 
Also verfügt Polen über einen Machtanteil von 6.3 Prozent; beim Kompromissvorschlag sinkt er auf 5.1 Prozent.

* Der Autor ist Mathematikprofessor an der Universität Augsburg und war Mitorganisator der Tagung in Oberwolfach.

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